Zusammenhängendes, populär aufbereitetes Wissen über die Bundesrepublik ist generell eher rar. Der Berliner Professor Uwe Wesel hat einen interessanten Beitrag zur Historisierung unserer Republik auf dem Gebiet des Rechts vorgelegt.
Das Fest zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes (GG) ist gefeiert, die Gratulationstexte sind in der Wiedervorlage abgelegt. Wenn sie im Jahr 2024 wieder hervorgezogen werden, wird die Bundesrepublik Deutschland das Deutsche Reich an Seniorität schon überholt haben.
Zu einer lebendigen, politisch wirksamen Kultur, sich ihrer eigenen Vergangenheit als föderaler, demokratischer und sozialer Rechtsstaat zu erinnern, haben es ihre Bürgerinnen und Bürger jedoch kaum gebracht. Zum Verfassungsgeburtstag am 23. Mai verrichten führende Politikerinnen und Politiker rhetorische Übungen, die ganz überwiegend belegen, wie trostlos das Dasein als Redenschreiber für sie sein muss. Zu Kaisers Geburtstag war mehr Lametta. Auch am 3. Oktober vermittelt sich stark der Eindruck, dass nur jedes Jahr in einer anderen Landeshauptstadt die ewig gleichen Würstchenbuden aufgebaut werden.
Während in den USA nicht wenige Journalisten mühelos beispielsweise aus den "Federalist Papers" – einer Serie von Artikeln zum amerikanischen Verfassungsstreit aus den Jahren 1787/88 – zitieren können, um die Koordinaten aktueller politischer Kontroversen abzustecken, gibt sich ein entsprechendes Vermögen ihrer deutschen Kolleginnen und Kollegen selten zu erkennen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass ihr Publikum keinen großen Vorrat an bekannten rechts-, politik- und verfassungshistorischen Narrativen hat, auf den sie anspielen könnten.
Eine populäre, historisierende Erzählung dazu, was die deutsche Republik und ihre Verfassung in den vergangenen sieben Jahrzehnten durchgemacht haben, tut also not, will man auf diese Möglichkeit nicht verzichten, fundiert mit politischen Gegnern zu streiten, statt via Hashtags mit eilig erklärten Feinden zu zetern.
Ein Kessel Buntes oder eine gewitzte Gesamtdarstellung?
Der emeritierte Berliner Rechtsprofessor Uwe Wesel (1933–) hat unlängst unter dem Titel "Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland" ein kleines Buch vorgelegt, das sehr viele der Themen benennt, die jedem politisch und historisch streitlustigen Bürger unseres Gemeinwesens vertraut sein sollten.
Gegliedert in vier große Abschnitte – von der Besatzungszeit (1945–1949), die Zeit Adenauers und Erhards (1949–1966), die Zeit von der Großen Koalition bis zur Wiedervereinigung (1966–1990) und von dieser bis heute – stellt Wesel bekannte wie in Vergessenheit geratene Fragen vor, die sich der Republik und ihren Juristen seit 1949 stellten.
In rascher Folge erzählt Wesel beispielsweise davon, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich im Streit um die Rechte der 1945 außer Dienst gestellten Beamten sowie um die Wiederaufrüstung seinen Status als Verfassungsorgan verdiente – und sein nachhaltig gutes, manche sagen: allzu hohes Ansehen in der deutschen Öffentlichkeit. Oder davon, wie Bundeskanzler Ludwig Erhard (1897–1977) sein Wirtschaftswunder-Renommee verspielte, indem er ein devisenpolitisches Arrangement mit den USA ohne Not rechtsverbindlich machte. Trotz der Euro-Krise seit 2010 gehört es heute nicht zum bürgerlichen Allgemein-Verstand, wie sehr es seinerzeit schon das sogenannte Offset-Abkommen innenpolitisch in sich hatte. Das ist merkwürdig.
In Wesels meinungsfreudigen Erzählen blitzen Erkenntnisse oder Fragen auf, die vertieft sein wollten: Der krumme Weg, auf dem etwa die 5-Prozent-Sperrklausel 1949 ins Bundeswahlrecht kam, ist vielleicht interessanter als ihre Ausweitung ins heutige Format vier Jahre später.
Gehörte der zähe Kampf um ein Wirtschaftsrecht, das mit der Tradition übermächtiger Konzerne und Kartelle seit dem späten Kaiserreich brechen sollte – eingefordert durch die alliierten Siegermächte, später dann durch die befreundeten europäischen Staaten – nicht ebenso zur politischen Allgemeinbildung wie das Trivialwissen um den etwas nörgelnden Beitritt Bayerns zum Grundgesetz (GG)?
Wesel lässt vieles auffunkeln. Manches lädt dazu ein, sich bekannte, aber wenig gelesene Texte mit frischem Blick vorzunehmen. Zum KPD-Urteil des BVerfG bringt er beispielsweise nicht nur die bekannte juristische Vor- und politische Nebenerzählung, die das vorangehende SRP-Verbot, die Entdeckung der objektiven Wertordnung des GG oder den sehr unverblümten Versuch Konrad Adenauers und Thomas Dehlers in Erinnerung rufen, Einfluss auf das Gericht zu nehmen, sondern auch eine kleine Nebenbemerkung: Jene 30 Seiten, auf denen die Richter Theorie und Praxis des "Marxismus-Leninismus" zusammenfassten, seien dessen "beste Darstellung in deutscher Sprache".
Wesel sollte es wissen: Die SPD schloss den Professor 1974 für eine Weile aus, weil er ihr zu links war. Und seine akademische Karriere hatte er in der klassischen Philologie begonnen. Wer sich mit Urkunden von Notaren des spätpharaonischen Ägyptens befasst hat, kann und will auch mit der deutschen Sprache etwas mehr anfangen.
Wesels perspektivische Einsicht sollte man haben wollen, ohne sich mit ihr gemein zu machen
Wo Wesel einen Witz macht, liegt oft ein Problem. Aus der gewitzten Bemerkung zum KPD-Urteil ließe sich beispielsweise gewinnen, es als eines der Gründungsdokumente der Bundesrepublik zu lesen, nicht bloß als Material für Subsumtionsübungen im Gutachtenstil.
Wenn er seine kurze Darstellung des Streits um die Notstandsgesetze mit der Bemerkung abschließt, das Widerstandsrecht sei "zur Beruhigung der Gemüter" in Artikel 20 Abs. 4 GG eingefügt worden, klingt sein Kommentar im Wortlaut so: "Wozu? Ist ein Widerstand erfolgreich, werden die Helden sowieso geehrt. Wenn nicht, werden sie verfolgt. Da nützt auch 20 Abs. 4 nicht mehr."
Dass sich mit diesem kurzen Kommentar viele Seiten juristischer Fachliteratur erübrigen ließen, ist nur ein Teil des Witzes. Der andere steckt in seiner Flapsigkeit: Es bliebe der deutschen Öffentlichkeit viel Maulheldentum erspart – vom "Volksverräter"-Geschrei aus Leipzig bis zur eitlen Phrase von der "Herrschaft des Unrechts", mit der sich Horst Seehofer um das Amt des Bundesinnenministers bewarb –, wäre die Komik des Artikels 20 Abs. 4 GG heiter habitualisiertes Allgemeingut politisch denkender Bürger oder der Mikrophon-Hinhalter beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Man hätte schneller parat, dass Helden eben anders aussehen.
Manches erfrischt, weil es in Wesels schnellem Durchgang gewitzt wirkt. Mal führt er kurz in den Wandel des Bereicherungsrechts ein, mal lobt er die – naturgemäß begrenzte – Innovationskraft der juristischen Wissenschaft, indem er das Umwelt- und das Planungsrecht als epochale Neuheiten darstellt.
Anderes ist gewitzt, weil es in juristischen Darstellungen oder in der öffentlichen Auseinandersetzung selten so gesehen wird. Wiederholt geht Wesel auf Fragen des Steuerrechts und der Finanzverfassung ein. Hat, von einigen Wirtschaftswissenschaftlern abgesehen, beispielsweise irgendein Normalsterblicher spontan eine Idee von der politischen Dimension des Umsatzsteuerrechts, die über nörglerischen Unwillen hinausginge, sie zahlen zu müssen?
Populäre Darstellung komplexer Sachverhalte
In den kurzen Anmerkungen Wesels zu der in der Geschichte der Bundesrepublik gar nicht selbstverständlichen Einführung des Vorsteuerabzugs funkelt mehr Einsicht in politische und ökonomische Zusammenhänge auf als in gefühlt 90 Prozent aller juristischen Vorlesungen zu irgendeinem Gegenstand des öffentlichen oder des bürgerlichen Rechts.
Ein Beispiel dafür, wohin dieses weitgehende Desinteresse führt? – Bei der Lektüre gerät ein Ärgernis aus jüngerer Vergangenheit in Erinnerung. Als beim Kölner Parteitag der "Alternative für Deutschland" ein Delegierter verzweifelt um Seriosität bat, man könne doch nicht ohne Gegenfinanzierungsvorschläge fordern, den Umsatzsteuersatz von 19 auf 15 Prozent zu senken, und barsch abgewiesen wurde, weil es genügen würde, durch deutschnationale Abschottungspolitik die Zuwanderungskosten zu beseitigen – da schaltete der Sender Phoenix zu einem belanglosen "Wie fühlen Sie sich heute"-Interview mit einem der vielen twitterprominenten rechtsradikalen AfD-Provinzpolitiker um. Kompetenzvortäuschungskompetenz, auf beiden Seiten.
Man muss Wesels populäre Darstellung komplexer Sachverhalte nicht mögen. Sein bekanntes Werk "Fast alles, was Recht ist", das zuerst 1992 in Hans Magnus Enzensbergers berühmter "Anderer Bibliothek" erschien, wurde damals von seinem konservativen Mannheimer Kollegen Gerd Roellecke (1927–2011) in der FAZ wegen seiner Kalauer und teils allzu starken Verkürzungen harsch getadelt, für die Anspielungen auf Georg Christoph Lichtenberg und Heine, Shakespeare und Uwe Johnson vom Kieler Literaturkritiker Martin Lowsky (1945–) im großartigen Schweizer Literaturmagazin "Der Rabe" hoch gelobt. Beide hatten ein gutes Stück recht.
Ein zu schneller Gang durch die Rechtsgeschichte?
Uwe Wesel bietet in seiner "Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland" einen schnellen Gang durch Verfassungs-, Straf-, Familienrechtsgeschichte etc., wirft einen Blick hierher, einen Blick dorthin. All das steht erkennbar in der Tradition von "Fast alles, was Recht" ist. Es gibt ärgerliche Fehler (ein Mühlhausen statt Mülheim an der Ruhr, einen Eichmann in Ägypten). Der historische Forschungsstand wird auch nicht immer getroffen.
Vielleicht wäre das Werk besser als Blog gelungen. Denn für die oft beklagte Aufmerksamkeitsspanne von Internet-Lesern schrieb Wesel (siehe oben: "20 Abs. 4") schon, als es die noch gar nicht gab. Weil Wesel ganz von Hand schreibt, war das aber wohl keine Alternative.
C.H. Beck hat ein Buch eher für Kunden daraus gemacht, die vermutlich ein steuerabzugsfähiges Weihnachtsgeschenk unter Juristen-Kollegen suchen, als für solche, die sich von gewitzten Tönen aufstacheln lassen wollen. Schade.
Uwe Wesel: Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Besatzungszeit bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München 2019, 276 Seiten, 29,80 EUR
Rezension: . In: Legal Tribune Online, 15.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39239 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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