Kleine juristische Anthropologie: Lügen Tränen nicht?

von Martin Rath

28.12.2014

Tränen lügen, aber gewaltig

Zu rund 4,2 Millionen Tränen ist der Mensch nach der Rechnung des Wissenschaftsjournalisten Werner Bartens zeit seines Lebens mit den gewöhnlich verfügbaren 70 Litern fähig, doch ist ihre soziale und damit juristische Evidenz keinesfalls eindeutig. Als Binsenweisheit gilt, dass Frauen schneller, häufiger und intensiver als Männer Tränen fließen lassen. Alexander Grau hält in einem Überblicksartikel zur Wein-Forschung aber fest, dass weibliche Säuglinge noch nicht häufiger weinten als männliche und sich die Geschlechter erst während der Pubertät auseinanderentwickelten – hierzulande, wird man wohl hinzufügen müssen. Doch Bartens merkt an, dass Frauen "in fast allen Kulturen der Welt mehr und häufiger" weinten.

Dieser kulturelle und der Geschlechterfaktor werden, wie eine Durchsicht von Entscheidungen der vergangenen rund 50 Jahre ergibt, nicht nach klaren Maßstäben "eingepreist". Das Weinen des nach Alkohol riechenden Autofahrers wird in den 1960er-Jahren unbedenklich als Evidenz für Brüche in seiner Handlungsfähigkeit gewürdigt. Zur gleichen Zeit stützt der BGH die sitzungspolizeiliche Allgewalt des tatgerichtlichen Kammervorsitzenden auf ritterliches Eingreifen zugunsten einer weinenden Zeugin. Ritterlichkeit und Strenge anders zu verteilen, würde noch heute kaum in den Sinn kommen. Die Tränen einer Holocaust-Überlebenden bedurften in den 1960er-Jahren eingehender medizinischer Würdigung, einen Entschädigungsanspruch mit zu belegen – es nimmt jedenfalls den Anschein, dass etwa die Kindertränen im Nürnberger Fall von 1998 unmittelbarere Evidenz hatten.

Besonders tränenreich ist in jüngerer Zeit die Arbeitsgerichtsbarkeit. Nicht minder uneinheitlich, erscheint ihre Rechtsprechung willkürlich in der Frage, welche Evidenz Tränen genießen. Das Landesarbeitsgericht Köln (LAG) erlaubt es einem Arbeitgeber nicht, an der Kündigung eines Arbeitnehmers festzuhalten, die dieser in einer emotional schwer belastenden Situation selbst ausgesprochen hatte. Die Belegschaft stand in Tränen (Urt. v. 02.02.2000, Az. 3 Sa 1296/99). Das LAG Berlin würdigt mehrmalige Tränenausbrüche vor Gericht hingegen negativ als Ausdruck einer "juristischen Inszenierung", offenbar unter Beihilfe eines Rechtsanwalts (Urt. v. 11.12.2003, Az. 16 Sa 1926/03).

Laufen lassen oder Tränen erklären?

Dass man sich zu einer klaren Haltung durchringen muss, zeigt das Bundesarbeitsgericht mit seinem Urteil vom 24. November 2005 (Az. 2 AZR 584/04), das in Sachen Tränen-Interpretation einen faden Nachgeschmack hinterlässt. Die Umstände des Falls: Ein Unternehmer hatte sich auf das Führen sogenannter "Trennungsgespräche" professionell, will sagen: offenbar unter Hilfe sogenannter Consultants, vorbereiten lassen. Unter den schlauen Beratertipps fand sich auch der Satz: "Achten Sie darauf, ob die Tränen echt sind oder eventuell auch als Strategie eingesetzt werden", der unter anderem in einem Seminar eingeschärft wurde. Ein Betriebsratsmitglied hatte in der Folge über das Intranet des Unternehmens eine krude Animation verbreitet, die das Wort "Trennungsgespräche" mit "lustigen" Bildern kombinierte – Guillotine, Leichenberge, Atompilz, Konzentrationslager und so weiter.

In der nachfolgenden Auseinandersetzung, ob die Kündigung dieses Betriebsratsmitglieds wegen einer unzumutbaren Gleichsetzung von "Trennungsgesprächen" mit NS-Verbrechen möglich sei, würdigt das BAG die Consultant-Tipps zum Umgang mit Mitarbeiteremotionen als Vorlage für den zulässigen Gegenschlag durch den Betriebsrat – weil es dem bösen Unternehmer darum gegangen sei, "eine Unterbrechung oder doch Überwindung der natürlichen körperlichen Reaktion (Tränen) betroffener Arbeitnehmerinnen auf zugefügten seelischen Schmerz (psychovegetative Entkoppelung)" zu bewirken, habe der Betriebsrat mit den brachialen Bildern antworten dürfen.

"Achten Sie darauf, ob die Tränen echt sind oder eventuell auch als Strategie eingesetzt werden!" – Es wäre welt- und justizfremd, die Abneigung der BAG-Richter gegen diese Consultingempfehlung als generelles Verdikt zu lesen. Niemand würde sich selbst dieses Urteil ja verbieten wollen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Kleine juristische Anthropologie: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13744 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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