Kann Künstliche Intelligenz Verträge schließen? Und wie lässt sich das beweisen? Das haben Rechtsinformatiker, Richter und Anwälte nun erstmals in einem Experiment durchgespielt – mit Überraschungen.
Nach mehreren Verhandlungstagen hat die 8. Zivilkammer des Landgerichts Südlingen ihre Entscheidung verkündet. Landgericht Südlingen? Auch wenn gefühlt immer mal wieder ein unbekanntes Amts- oder Landgericht aufzutauchen scheint, von Südlingen haben wir noch nie gehört. Kein Wunder: Das Landgericht Südlingen existiert nur als Versuchsaufbau. Im sehr realen Saal 123 im Gebäude A des Amtsgerichts Frankfurt am Main kamen ebenso reale Richter, Anwälte und Sachverständige zusammen. So ist der Vorsitzende Richter beim Landgericht Südlingen, Florian Conradi, eigentlich Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Die Anwälte kamen von den namhaften Großkanzleien Jones Day und Ashurst.
Was das fiktive Gericht zu entscheiden hatte, ist Neuland für die Justiz: Sind Verträge wirksam, die ganz ohne menschliche Beteiligung zustande kommen, allein geschlossen durch Künstliche Intelligenz? Eine Rechtsfrage, die erst in einigen Jahren so vor einem deutschen Gericht auftauchen dürfte. Die Zukunftsszenarien für ein intelligentes Vertragssystem sind aber schon absehbar: Ersatzteile und Rohstoffe werden automatisch bestellt, wenn die Vorräte knapp werden, oder Firmen automatisch beauftragt, Reparaturen auszuführen. Produkte werden autonom ausgeliefert, Lkws smart beladen.
Wie auch beim Vertragsschluss unter Menschen werden hier Dinge schiefgehen. Lieferungen kommen zu spät, gar nicht oder enthalten nicht Bestelltes, Waren gehen kaputt. Falsche Willenserklärungen, und sogar Irrtümer der Maschinen? Alles Material für die Basics im Bürgerlichen Gesetzbuch. Aber taugen die Regeln auch für Vertragsschlüsse allein durch Maschinen und KI? Um das herauszufinden, hat der Rechtsinformatiker Professor Georg Borges von der Uni des Saarlandes ein Gerichtsverfahren durchspielen lassen. Richter Conradi sagte anschließend: "Wir haben diesen Fall als realen Fall behandelt."
Wenn sich Juristen ein Planspiel ausdenken und bis ins Detail durchspielen, dann führt kein Weg daran vorbei, dass etwa die Adressen im Urteil lauten "An der Notarkammer 1" oder "Kanzleistraße 1a". Aber es gibt es eben auch ein knapp dreißig Seiten langes Urteil, samt ausführlicher Begründung, sogar ein Wappen prangt über dem Tenor, Zinsen und Kostentragung werden geregelt. An alles ist gedacht.
Dürfen Maschinen Verträge schließen und wie lässt sich das beweisen?
Geklagt hatte das fiktive Unternehmen "Production Engineering GmbH", das Wälzlager herstellt. Das sind Kugellager, die Bewegungen einer Maschine erleichtern. Die Beklagte "Bertel Maschinen GmbH" ist ein anderes Industrieunternehmen, das Maschinen herstellt und dafür Wälzlager benötigt. Nun streiten beide Unternehmen um zwei Bestellungen, die Production Engineering hat die Wälzlager geliefert und fordert nun Zahlung des vereinbarten Kaufpreises. Aber von wem eigentlich vereinbart?
Beide Bestellungen wurden vollautomatisch erzeugt. Über Menge und Kaufpreis verhandelte auf der jeweiligen Seite ein Computerprogramm als Agent. Außerdem wurde automatisch die Erzeugung eines Blockchain-basierten Smart Contract veranlasst. Smart Contracts sind digitale Verträge, sie werden in einer Blockchain gespeichert. Die Blockchain (engl. Blockkette) ist eine Technologie zur Datenvorhaltung. Das Besondere dabei ist, dass sie in dezentral verteilten Netzwerken und nicht von einer zentralen Instanz verwaltet werden. Der Einsatz gilt deshalb als besonders sicher. Damit kann auch ein Vertrag gesichert werden, also ein Smart Contract. Sind vorher definierte Bedingungen erfüllt, wird der Vertrag ausgeführt. Also Geld ausgezahlt – oder das Versenden von Kugellager in Auftrag gegeben werden.
"Damit kann die Vertragsausführung gesichert und parallel auf mehreren Computer-Servern gespeichert und überwacht werden", erklärt Georg Borges. "Dadurch ist die Vertragsausführung vor Manipulationen sicher."
Knackpunkt bei dem Test vor Gericht sollte sein: Wie beurteilen die Richter einen Vertragsschluss durch Maschinen und wie stufen sie eine Dokumentation per Blockchain-Technologie als Beweismittel ein?
Die erste Bestellung von Wälzlagern soll im Januar 2023 erfolgt sein. Hier war streitig, ob Bertel die Bestellung vorgenommen hat. Da Bertel das bestreitet, wurde eine Beweisaufnahme fällig. Dort war zu klären, ob die automatisch erzeugten Bestellprotokolle ein zulässiges Beweismittel sind.
Die zweite Bestellung von Wälzlagern durch Bertel soll im März 2023 erfolgt sein. Die Existenz der Bestellung ist hier unstreitig. Die Wälzlager wurden im Mai 2023 geliefert, waren aber porös und damit mangelhaft. Hier war streitig, ob Bertel rechtzeitig eine Mängelrüge erhoben hat. Die Rüge war via den Smart Contract zu übermitteln. Sie wurde dort festgehalten. Bertel behauptet, die Rüge rechtzeitig veranlasst zu haben, jedoch habe es eine Störung im System und daher eine verspätete Übermittlung gegeben.
Daher war im Gerichtsverfahren zu klären, ob durch die Blockchain-Protokolle bewiesen werden konnte, dass es tatsächlich eine Störung gab und dass Bertel wirklich innerhalb der Frist versucht hat, die Rüge abzusetzen. Rechtlich war zu prüfen, wer das Risiko einer solchen Störung trägt.
Anwälte wollten heiklen Beweisfragen ausweichen
Aus Sicht des Rechtsinformatikers hat sich der Einsatz bewährt. "Die Blockchain hält – will heißen: Die Dokumentation eines Vertrags in einem Blockchain-basierten Smart Contract liefert einen verlässlichen und gerichtsfesten Nachweis für die dokumentierten Erklärungen."
Das Gericht habe in allen Punkten auf die Software-Agenten und Smart Contracts vertraut, die automatisch geschlossenen Verträge seien wirksam, die Dokumentation der Bestellung im Smart Contract reicht für einen gerichtsfesten Beweis aus. "Die Protokolle der Blockchain können technische Störungen zuverlässig identifizieren", so Borges.
Die Gerichtssimulation gehört zum Forschungsvorhaben "Industrie 4.0 Legal Testbed", es wird vom Bundeswirtschaftsministerium mit mehreren Millionen Euro gefördert. Ein interdisziplinäres Forschungskonsortium arbeitet unter anderem an einem Software-Agenten, der voll automatisiert Verträge abschließt. Die Technik kam nun zum Einsatz.
Wie realistisch der Test ausfiel, dazu eine Anekdote von Borges. So musste der Erfinder des Rechtsstreits live nachsteuern, weil die Anwälte beider Seiten durch ihre Prozessstrategie geschickt versucht hatten, an den besonders heiklen Beweisfragen vorbeizusteuern. Auf die kam es dem Versuchsleiter aber gerade an. Also etwa die Frage, lässt sich durch Spuren in der Blockchain gerichtsfest beweisen, dass das System der Bestellerin technisch gestört war, und deshalb keine Mängelrüge abgegeben werden konnte.
Viel zu sehen gibt es für das menschliche Auge dabei auf den ersten Blick allerdings nicht. Denn die Signaturen, die die Abläufe dokumentieren, sind nur maschinenlesbar: Sie sind in Code geschrieben. In einer per Video dokumentierten Szene der Gerichtsverhandlung (auch hier in Sachen Dokumentation ist das Experiment seiner Zeit weit voraus) beugen sich die Beteiligten interessiert über einen Laptop. Zu sehen ist eine seitenlange Folge von "eyJ0eXaiOiJKV…". Richter Conradi schmunzelt und stellt fest: "Eindrucksvoll".
Laut Rechtsanwalt Dr. Alexander Duisberg (echter Name), Partner bei Ashurst, bestand darin eine der wesentlichen Herausforderung auf Anwaltsseite. Dem Gericht musste die technische Seite des Sachverhalts nahe gebracht werden, obwohl vieles davon nicht als gewöhnliche Schriftdokumente, sondern Buchstaben- und Zahlenreihen vorlag.
Hinter jeder KI steckt irgendwo doch ein Mensch
Auf der anderen Seite: So fern und sperrig sind die Rechtsfragen dem Zivilrecht nicht. Der Vorsitzende Richter Conradi fasst es so zusammen: "Wer hat wann wo und wie die wesentlichen Parameter dieses Vertrags bestimmt?"
Im Urteil heißt es dazu: "Sowohl der Inhalt als auch der Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung kann in einem vertraglichen System auch weitgehend einem automatisierten Vorgang überlassen werden. Dazu bedarf es aber konkreter Parameter, die zuvor durch jede Partei festgelegt wurden und den Rahmen für den Vertragsschluss abstecken […]. Zusätzlich gilt, dass am Beginn einer Kette von Schritten, die zur Erzeugung einer derartigen Erklärung notwendig sind, eine natürliche Person stehen muss, die erkennbar Urheber der elektronischen Willenserklärung ist."
Am Ende wird es nach der Vorstellung des Gerichts darauf ankommen: Wer hat die Vorentscheidungen etwa zur Preisskala, Menge, Entscheidungspräferenzen, auf deren Grundlage die KI arbeitet, bestimmt – am Ende steckt hinter jeder Entscheidung doch irgendwo ein Mensch. Und dann ist, so die Folgerung des Landgerichts Südlingen, das Zivilrecht mit seinem System aus Willenserklärung und Haftung wieder auf bekanntem Terrain.
Urteil des "Landgerichts Südlingen": . In: Legal Tribune Online, 29.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55097 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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