Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Freude. In der Theorie. Praktisch häufig eher das des Streits und der Tränen. Anlass genug für Martin Rath, einmal zusammenzutragen, was Wissenschaftler über das Weinen zu sagen haben. Weinen Frauen öfter? Und was heißt das für den Beweiswert der Tränenflüssigkeit?
Während Sie diesen Text lesen, produzieren Sie wahrscheinlich zu wenig, weil beim Lesen nur 4-mal, normalerweise aber 20-mal in der Minute geblinzelt wird. Die rund 70 Liter Tränenflüssigkeit, die ein Mensch im Lauf des Lebens weinen kann, kommen damit nicht gut auf die Hornhaut. Das gilt für Normalmenschen. Juristen machen sich über Tränen noch ganz eigene Gedanken.
Wenn es darum geht, ein normatives Werturteil abzugeben, lernen Juristinnen und Juristen, dass gar nicht zu selten die richtige Antwort lautet: "Es kommt darauf an." Für eine klarere Aussage hilft es dann, einen Blick in die Fachliteratur zu werfen oder den Sachverhalt weiter aufzuklären. Doch wie ist mit Tränen umzugehen?
Für Rechtswissenschaftler sind sie eine Flüssigkeit von fragwürdiger Beweiskraft. Bereits Säuglinge im Alter von sechs Monaten sind, wie der Wissenschaftsjournalist Werner Bartens referiert, nach Auskunft der psychologischen Forschung fähig, so zu tun, als ob sie weinten, um die Reaktionen ihrer Eltern zu manipulieren – es bleibt nicht bei diesen einfachen Formen, mit Gefühlen zu spielen.
Tränenfluss als Grundlage des Bürgschaftsrechts?
Trotz ihrer zweifelhaften Evidenz findet sich vor allem in der Rechtsprechung eine Anzahl von Fällen, in denen Tränen einiges Gewicht dabei hatten, die richterliche Erkenntnis zu beeinflussen – für oder gegen die jeweilige Sache, darin herrscht eine merkwürdige Willkür.
Zu den stark umstrittenen Themen des deutschen Zivilrechts zählte in den 1980-er- und 1990-er-Jahren die Frage, ob und wann eine formgültige Bürgschaftserklärung als sittenwidrig nach § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) aus der Welt geschafft werden könnte, weil der Bürge – meist handelte es sich um eine Bürgin – die Erklärung trotz Vermögens- und Einkommenslosigkeit abgegeben hatte. Wie immer, wenn Fragen nach Eigenverantwortung oder dem "Schutz des Menschen vor sich selbst" ins juristische Spiel kommen, taten sich die Gerichte und ihre professoralen Beobachter schwer damit.
Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz fand damals in – höheren Orts – vergossenen Tränen einen Anhaltspunkt, in seinem Fall eine einkommens- und vermögenslose Bürgin gerade nicht aus der Haftung zu entlassen, wie es dem Trend der Zeit zu entsprechen schien (Beschl. v. 25.03.1992, Az. 5 W 94/92). Die Richter in der rheinischen Provinz grenzten die von ihnen zu entscheidende Sache von einem Verdikt des Bundesgerichtshofs (BGH, 22.01.1991, Az. XI ZR 111/90) nicht zuletzt dadurch ab, dass die Bürgin im BGH-Fall bei Übernahme der Bürgschaft "in Tränen ausgebrochen" war – und damit unter Zeugen belegt hatte, wie sehr sie unter Druck gestanden habe. Im Koblenzer Fall fehlte es an solchen Belegen ausgeübten oder empfundenen Drucks, daher blieb es im Ergebnis bei der Haftung der armen Bürgin.
Willkürliche Evidenz von Tränen
In einer Schmerzensgeldklage, entschieden vom OLG Nürnberg, wurde eine traditionelle formale Härte des deutschen Zivilrechts zwar nicht im Grundsatz von Tränen fortgespült, doch hatten sie im anhängigen Fall offenbar einige zusätzliche Evidenz (Urt. v. 27.02.1998, Az. 6 U 3913-97). Dass die Sache für sich schon berührt, genügte nicht: Die Mutter zweier Teenager war erschossen worden, der Täter hatte wohl die Waffe erfolglos noch gegen sich selbst gerichtet, die Kinder sahen das Blutbad mit an.
Die Nürnberger Richter betonten im später folgenden Zivilprozess gegen den Schützen, dass "Trauer und seelischer Schmerz von Hinterbliebenen nach dem System der beschränkten Deliktshaftung des BGB grundsätzlich nicht zu einem Schmerzensgeldanspruch gegen den Täter führen". Als eines der Beweiszeichen für die – trotz der grundsätzlichen formalen Härte – haftungsbegründenden "gewichtigen psychopathologischen" Beeinträchtigungen der überlebenden Kinder würdigte das Gericht, dass die 16-jährige Klägerin in der mündlichen Verhandlung zur Schmerzensgeldklage, vor den Augen des Senats, vier Jahre nach der Tat "sofort in Tränen ausbrach" und zu keiner Äußerung zu bewegen war.
Tränen, die für sich sprechen, flossen auch in einen Beschluss des Landessozialgerichts Bayern zugunsten einer Beschwerdeführerin ein, die 2008 vor dem Sozialgericht Bayreuth nicht nur mit ihrer Klage auf Witwenrente scheiterte, sondern dem Kammervorsitzenden mehrfach ins Wort fiel und daraufhin mit einem Ordnungsgeld von 150 Euro belegt wurde. Die Beschwerde, dass ihr wegen letzterem kein rechtliches Gehör gewährt wurde, unterstrich sie damit, wegen "ihres Alters ziemlich durcheinander" und "deshalb auch in Tränen ausgebrochen" zu sein.
Keine eigenständige oder wenigstens unterstützende Beweiskraft mochte hingegen das Landgericht Lüneburg (LG) in einer Sache erkennen, in welcher der juristische Sprachgebrauch komisch wirken würde, wäre die Angelegenheit nicht so bitter: "Der Kläger hat durch den Verkehrsunfall erhebliche Hirnschäden erlitten. Mit dieser Hirnschädigung geht eine vollständige Lähmung im Sinne eines appallischen Syndroms und damit ein Verlust der gesamten Persönlichkeit einher." Etwas bizarr liest es sich, vielleicht nicht nur für Nicht-Juristen, wenn es im LG-Urteil (v. 26.1.2005, Az. 5 O 302/03) wörtlich heißt: "Der Kläger behauptet, dass er seine persönliche Situation noch wahrnehme. So liefen bei Besuchen von Angehörigen gelegentlich Tränen."
Martin Rath, Kleine juristische Anthropologie: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13744 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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