2/3: Steigerungsform juristischer Bildungsbeflissenheit
Für die allgemeine Öffentlichkeit gilt: Jahresrückblicke, vor allem im Fernsehen, sind ein gruseliges Format, das dazu dient, mit Bildmaterial aus dem Archiv langweiligen Moderatoren noch ein paar Gebühren-Euro zu überweisen.
Auch was den Juristen vom Jahr 2012 im Gedächtnis bleibt, ist eher grässlich. Glücklicherweise braucht man zur Weihnachtszeit nicht auf die Beschneidungsdebatte zurückblicken, was erstens kalendarisch ganz unpassend wäre, weil die Christenheit die Beschneidung ihres Religionsstifters erst acht Tage nach Weihachten feiert (Festum circumcisionis am 1. Januar) und zweitens auch völlig überflüssig, gab es doch ein, um nicht zu sagen: das aufregende juristische Thema, immer wieder und wegen des Aufkommens der so genannten Piratenpartei besonders heftig: Probleme mit dem geistigen Eigentum.
Gegen den Begriff "geistiges Eigentum" wurde teils heftig polemisiert. Mitunter genügt dem deutschen Juristen die blasse Erinnerung an universitäre Dogmatik, der zufolge es so etwas nicht gibt. Eigentum, das will man anfassen. Alles andere verflüchtigt sich in der Geisterwelt immaterieller Rechte.
In seiner 2012 publizierten Bayreuther Doktorarbeit (betreut von Oliver Lepsius) gibt Michael Goldhammer eine Orientierung zur US-amerikanischen wie der deutschen Diskussion. Wann wird schon einmal die juristische Dogmatik immaterieller Güter mit einer philosophischen Rechtfertigung von Eigentum an sich abgeglichen? Für Auseinandersetzungen, die über das jeweils aktuelle Feldgeschrei hinausgehen – zum Beispiel zum Leistungsschutzrecht - liefern Bücher wie dieses die notwendige Substanz. Bildungsbeflissenen juristischen Lesern sei "Geistiges Eigentum und Eigentumstheorie" daher anempfohlen.
Zu den spannenden juristischen Büchern des Jahres zählt die "Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner".
Das klingt nach schwerer Kost, scheint aber bestens dazu geeignet, Juristenaugen zum Leuchten zu bringen. Wie oft wird behauptet, Normen seien nach Maßgabe von "grammatischer" bis "teleologischer Methode" auszulegen? Wie selten wird im historischen Kontext beleuchtet, welche Politik jeweils hinter einer "Methoden-Mode" stand? Wie positionierten sich die großen deutschen Dogmatiker mit ihren Methoden gegenüber dem monarchistischen Staatsapparat oder heute im Verhältnis zum demokratischen Gesetzgeber? Gibt es eine Welt diesseits des "Verfassungsgerichtspositivismus"?
Der Rezensent schwärmt selten, für dieses Buch aber wiederholt. Auszuschwärmen, es in die Weihnachtseinkäufe für sich oder befreundete Juristen zu legen, lohnt sich allemal.
Ein Richter sieht wieder seine Füße und sein Gemächt
Deutsche Krimi-Konsumenten sind ein elendes Volk, möchte man meinen. Nicht allein, dass der "Tatort aus Münster" erst in jüngster Zeit die Kritiken bekommt, die er länger schon verdient: Wie viel mehr beweist die mehr gewollte Krimi-Kunst einer Nelle Neuhaus ("Schneewittchen muss sterben"), dass die Leser dieses Genres zwar zwischen Gut und Böse unterscheiden können, es aber mit dem Urteilsvermögen zwischen gut und schlecht hierzulande nicht weit her ist.
Wie viel besser kann ein Krimi sein? Noch dazu einer, in dem ein Richter die Hauptrolle spielt? In Ross Thomas' "Gottes vergessene Stadt" tritt der vormalige Richter am obersten Gerichtshof eines anonymen US-Bundesstaats in der Hauptrolle auf. Lange wurde er als Kandidat des US-Präsidenten für den Obersten Gerichtshof in Washington gehandelt, allerdings als chancenloser. Denn Jack Adair hat – wie viele Figuren bei Ross Thomas – eine Schwertgosch, ein böses Mundwerk. Kurz bevor er aufgrund einer Intrige zu einer 15-monatigen Haftstrafe verurteilt wurde, argumentierte er – im Inbegriff seiner richterlichen Würde – in einer US-Talkshow gegen die Todesstrafe: Wer auf die abschreckende Wirkung von Hinrichtungen setze, müsse sie öffentlich vollstrecken lassen, allerdings nicht mit irgendeiner 08/15-Hinrichtung am Galgen, sondern durch Vierteilung mittels einiger kräftiger Pferde – zur besten Fernseh-Sendezeit, bevor die Kleinen ins Bett müssten.
Zur eher liebevoll-sarkastischen Teil der Figurenzeichnung durch Ross Thomas gehört die Beschreibung des Ex-Richters unter der Dusche, ein gefährlicher Ort im US-Strafvollzug, kurz vor Haftentlassung: Der Richter blickt an sich herunter, der Wohlstandsbauch ist verschwunden. Jack Adair sieht nicht nur seine Füße wieder. Körperlich fit begibt er sich an die Aufklärung der Intrige, eine über- aber nicht schnell durchschaubar komplex gebaute Erdöl- und Erb-Geschichte im Hintergrund.
Ross Thomas (1926-1995) war Soldat im Zweiten Weltkrieg, Wahlkampf-Strippenzieher und Lobbyist im Dunstkreis der demokratischen Partei, kannte das journalistische und Geheimdienst-Milieu im Westdeutschland der 1950er- und 1960er-Jahre. Hierzulande wurde sein Werk durch schlechte und verstümmelte Übersetzungen lange geschändet, jetzt macht ihn der Berliner Alexander Verlag mit einer gut gestalteten Werkausgabe endlich gescheit zugänglich.
Eine Spur realitätsnäher als die mit grandios bösem Witz gesegneten Krimis und Thriller des Politik-Insiders Ross Thomas sind die großen Erzählungen von David Simon.
Seine HBO-Serie "The Wire", die wirklichkeitssatt von den Drogen- und Polizeimilieus von Baltimore erzählte und weder Journalisten noch Lehrer, weder Politiker noch Richter – geschweige denn: milieunahe Strafverteidiger – schonte, ist inzwischen auch als synchronisierte Fassung zu haben, wenn auch leider die "deutschen Stimmen" den Eindruck machen, den Stimmbruch noch vor sich zu haben. Neben dem Original von "The Wire", mittlerweile erschwinglich zu kaufen, empfehlen sich daher David Simons literarische Vorlagen wie "Homicide". Auf vier, fünf Seiten werden Fälle wie dieser entwickelt: Ein Kleinkind ist möglicherweise durch Gewalteinwirkung zu Tode gekommen, verdächtig sind die – mit zehn bzw. 13 Jahren sogar für US-Verhältnisse beinah strafunmündigen – Babysitter. In ihrem öffentlich zugänglichen Autopsie-Bericht legt sich die frisch angestellte Gerichtsmedizinerin auf ein Tötungsdelikt fest, während die Mordkommissare – in Baltimore mit hunderten von Fällen jährlich belastet – den Fall schon als Unfalltod bekannt gemacht haben. Die Meinungsdifferenz zwischen den Behörden zwickt die Öffentlichkeit kurz, doch bleibt die Sache letztlich im Ungefähren, weil sich am Ende niemand ernsthaft für eine verbindliche Klärung interessiert: Überlastete Behörden, sozial und intellektuell minderbemittelte "Geschädigte", eine längst nicht mehr bürgerliche Gesellschaft, die sich von einem Skandal zum nächsten hetzt, bilden das traurig-realistische Panorama.
Die deutsche Öffentlichkeit hat ja keine David Simons, aber man darf sich das Werk dieses US-amerikanischen Journalisten und TV-Autors vorstellen wie eine große, realitätssatte Aufklärungsarbeit – so wie wir sie hierzulande nur hier und dort bruchstückhaft kennen.
Martin Rath, Geschenkratgeber: . In: Legal Tribune Online, 16.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7798 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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