Krebsbüchlein eines Juristen: Nach­denken über Sterben und Recht

von Martin Rath

18.10.2015

2/2: Staatsrechtsvorlesungen lösen keine Machtfragen

Noll war besonders sensibel für die Schleichwege, auf denen sich die Macht, der es seiner Auffassung nach vom ersten juristischen Semester an gegenüber wachsam zu sein galt, ihren Einfluss verschaffte. Als Schweizer, im damaligen Zentrum der internationalen Kapitalflucht und Geldwäsche lebend, galt sein Augenmerk der wirtschaftlichen Macht.

Deren Unlust, Widerwillen und Unfähigkeit, sich abstrakt zu rechtfertigen, empörte Noll. Das ließ ihn die witzige Idee formulieren: "Vielleicht müsste man die Rollen umkehren. Man müsste die Generäle der Multis zu Philosophie-Professoren ernennen und damit zwingen, darüber nachzudenken, was sie tun." Das ist insofern witzig, als es etwas anderes meint, als Manager, die sich mit Honorarprofessuren und "Unternehmensphilosophien" schmücken. Wie viel wäre heute schon gewonnen, würden die konservativen, nicht die ohnehin verdächtigen linkslastigen Studenten, beispielsweise den Nebenberuflichen und Ehrendoktoren, promoviert von wirtschaftsrechtlichen Lehrstuhlinhabern, intellektuell auf den Zahn fühlen.

Ein intellektueller Jurist schließt mit dem Leben ab

Neben eher abstrakten Reflexionen über Recht, Gerechtigkeit und die Macht sind Peter Nolls "Diktate über Sterben und Tod" aber auch das, was er mit Blick auf die überwiegend von Frauen produzierte Selbsterfahrungsliteratur ein bisschen despektierlich als "Krebsbüchlein" bezeichnete. Es findet sich nachsichtiger Zorn über die Konsenskultur der Fakultäten, in der zwar plagiierende Doktoranden streng bestraft, ihre Doktorväter aber mit Nachsicht behandelt werden.

Noll nimmt sich vor, sollte er noch die Zeit finden, "eine Typologie ärztlichen Verhaltens und ärztlicher Persönlichkeiten aufzustellen", obwohl dies gar nicht nötig sei. Wie die Juristen glichen sich die Ärzte darin, nicht den Patienten oder Mandanten zu schützen, sondern sich selbst, indem sie sich an professionelle Spielregeln hielten, auf Anteilnahme und Individualität weitgehend verzichteten. Und auch diesen Gedanken verwirft Noll wieder, weil er unfair sei, denn niemand könne "mit 40 Patienten pro Tag ein wirkliches Gespräch führen".

Der Sohn eines protestantischen Pfarrers äußert sich 1982 unbarmherzig über den angeblichen Satz Martin Luthers vom Apfelbäumchen, das noch zu pflanzen wäre, wenn morgen die Welt unterginge. Man bemerkt, dass Peter Noll seit 1982 tot ist, während der evangelische Kitsch von beredten Geistern wie Margot Käßmann gepflegt wird.

Rarität eines intellektuellen Juristen am Lebensende

Über Krankheiten wird viel geschrieben. Krebsliteratur war schon Anfang der 1980er Jahre epidemisch. Inzwischen finden sich erste Bücher über heiße Reisen in die tropischen Ebolaländer. Mit schicken Krankheiten wie einer durchgestandenen Malaria kann der Fernreisende von heute sich im Party-Smalltalk interessant machen. Sogar widerwärtige Erkrankungen wie die Alkoholabhängigkeit haben den Weg in kluge und unterhaltsame Bücher wie Simon Borowiaks "Alk" gefunden. Derzeit scheint die Psyche Konjunktur zu haben. Peter Nolls "Diktate über Sterben und Tod", dieses Krebsbüchlein eines bemerkenswerten Juristen, gilt es dagegen erst wiederzuentdecken.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Krebsbüchlein eines Juristen: . In: Legal Tribune Online, 18.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17235 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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