Kriminalbiologie, Rassenwahn und Voodoo: Affe­n­ohren ver­raten die Ver­b­re­cherin

von Martin Rath

11.10.2015

2/2: Männer sind näher am Affen

"Obgleich das Ohr der Frau sich weiter vom Affenohr entfernt, als das männliche Ohr", referiert Granier einen weiteren bemerkenswerten Befund, seien "die Mißbildungen dieses Organs, wie sie bei Verbrecherinnen gefunden werden, es oft dieses Vorteils verlustig gehen zu lassen." Neben den häufiger unter Verbrecherinnen als unter anderen Frauen anzutreffenden Henkelohren, habe "das Darwinsche Knötchen, die letzte Spur des tierischen Ohres, einigen Wert behalten. Es kommt viel häufiger bei Verbrecherinnen als bei normalen Frauen vor."

Diesen Griff in die Mottenkiste der Kriminalbiologie kann jede Leserin – und aus Solidarität auch jeder Leser – an der eigenen Ohrmuschel empirisch erfassen: Findet sich dort jener Knorpelfortsatz, den Charles Darwin als Überrest des Affenohrs beim Menschen ausgemacht hat, sollte man unbedingt von Zeitreisen in die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg Abstand nehmen: Die damals moderne Kriminologie könnte am Ohrhöcker die geborene Verbrechensgeneigtheit erkennen.

Ungeachtet all dieser heute völlig bizarr anmutenden "wissenschaftlichen" Erkenntnisse, blieb Granier skeptisch, was die – später im NS-Staat weit verbreitete – Schädelmessung betraf. Die frühe Kriminologie versprach sich von den Schädelmaßen Aufschluss über die geistige Leistung und kriminelle Neigung der Kopfinhaber.

Die Aussagekraft solcher Messungen bezweifelte Granier mit Blick auf die Weinflasche. So wenig wie ihre Form die Qualität des Inhalts beeinflusse, reiche die Schädelform hin, zwingend auf das enthaltene Hirn zu schließen. Leider hat sich die Einsicht aus dieser französischen Analogie des Jahres 1906 in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Hier durften Voodoowissenschaftler wie Otmar von Verschuer bis in die 1960er-Jahre akademisch lehren.

Eine spezifisch weibliche Kriminalität

Wozu überhaupt in die kriminologische Mottenkiste des Jahres 1906/1910 greifen? Neben den skurrilen Aspekten zeichnete Camille Granier auch das Panorama einer spezifisch weiblichen Kriminalität, das die sozialen Unterschiede zwischen seiner und der heutigen Welt erkennen lässt. Beispielsweise beschreibt er den Berufsstand der Engelmacherin. Heute werden darunter fälschlich meist Anbieterinnen illegaler Schwangerschaftsabbrüche verstanden. Nach damaligen Begriffen waren Engelmacherinnen insbesondere Frauen, die Kleinkinder im Hortalter aufnahmen, um diese – bedingt vorsätzlich und einvernehmlich mit den Müttern – durch Unterversorgung zu Tode zu bringen. Man schwieg darüber vornehm wie heute zu Überlebensquoten in Altersheimen.

Granier spricht auch die Lage der Kindermädchen an. Im jungen Personal, das in der Epoche vor Staubsauger und Waschmaschine weit verbreitetet war, sah der französische Kriminologe ein beträchtliches Verbrecherinnenpotenzial unter anderem für den sexuellen Missbrauch zulasten von männlichen Schutzbefohlenen, den jungen Herren bürgerlicher und adeliger Haushalte. Sensiblere Gemüter beurteilten die Macht- und Missbrauchsverhältnisse schon damals exakt spiegelbildlich.

Obskure Schriften wie "Das verbrecherische Weib" eignen sich sehr gut, Juristinnen und Juristen daran zu erinnern, dass sie in ihrer Profession für den Nervenkitzel nicht zu Stephen-King-Romanen greifen brauchen. Ein älteres Fachbuch tut es auch. Insbesondere für den Blick in den historischen Spiegel, in die anders gelagerten Machtverhältnisse und ihre moralisch-juristische Bewertung eignet sich die angestaubte Literatur der Jurisprudenz.

Hinweis: Camille Graniers "Das verbrecherische Weib" in der Übersetzung von Otto von Boltenstern, herausgegeben von Iwan Bloch (1910), ist in einer – oft verkürzten Form – antiquarisch verfügbar. Das französische Original von 1906 lässt sich als Digitalisat finden.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Kriminalbiologie, Rassenwahn und Voodoo: . In: Legal Tribune Online, 11.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17160 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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