2/2: Wette gegen Boulevardpresse gewonnen
Diese 'Wette' gewann "Save the Children" und man schloss bis heute nicht. Die Kosten für professionelle Fundraiser wurden zwar wiederum skandalisiert, aber letztlich setzte sich das Modell, nicht traditionell um Spenden zu werben, unter den Hilfsorganisationen durch. Die Boulevardpresse hielt sich nach Appellen an den patriotischen Sportsgeist zurück: Als führende Nation sollten die Briten doch nicht geiziger bei der Rettung der gefährlichen Bolschewistenkinder sein als der Papst, die Franzosen oder Amerikaner, die sich jeweils mit Millionen Lira, Franc und Dollar engagierten.
Angesichts der ambivalenten Haltung daheim war es nicht selbstverständlich, dass "Save the Children" im Verein mit Partnern unter anderem aus Belgien und der Schweiz im Jahr 1924 eine Kinderrechtsdeklaration des Völkerbunds auf den Weg bringen konnte. Es gab weitgehende Ideen, beispielsweise, das Amt eines Hochkommissars für Kinderrechte zu schaffen. Angesichts der materiellen Notlage von Millionen Kindern, auch in Europa, war das kein Gedanke, bei dem man das näselig-unsinnige Herbert-Grönemeyer-Lied "Kinder an die Macht" im Sinn haben müsste.
Die Ausgangslage für menschenrechtliche Deklarationen schien im frisch gegründeten Völkerbund allerdings nicht allzu gut. Bereits in den Vorkriegsjahren waren die britischen Minister allen Bemühungen abgeneigt, kollektive völkerrechtliche Erklärungen zu unterstützen, die dazu geeignet sein könnten, eine britische oder fremdländische Regierung zu "beschämen". Der Resonanzraum des internationalen diplomatischen Betriebs sollte nach dieser Auffassung nicht dazu dienen, Klagen über die desolate Menschenrechtslage in irgendeinem Land weltweites Gehör zu verschaffen.
Immerhin waren sich britische Minister damals noch zu fein, ihr "Nein" offen in die Welt zu posaunen. Man entsandte einfach zu den entsprechenden Konferenzen intellektuell unbedarfte Diplomaten ohne Entscheidungsmacht, um gleichzeitig Präsenz zu zeigen und die jeweilige Sache zunichte zu machen.
Kinderrechte aus Sicht der Völkerbundversammlung
Die kanadische Historikerin Dominique Marshall, die das fast irrwitzige Geflecht an widerläufigen diplomatischen Positionen und Aktivitäten der Kinder- und Menschenrechtsverfechter in der Frühzeit des Völkerbunds am Beispiel der Kinderrechtserklärung aufgeschlüsselt hat, sah schließlich in einem schlichten Klüngel der britischen Upper Class den auslösenden Impuls für das Zurückweichen des britischen Widerstands: Neben den berühmten Jebb-Schwestern, Gründerinnen von "Save the Children", war auch Schwager und Gatte Charles Roden Buxton (1875-1942) mit im Spiel.
Buxton hatte als radikal linksliberaler, dann Labourabgeordneter und Freund des ersten sozialistischen Premierministers Ramsay MacDonald (1866-1937) die Möglichkeit, an höherer Stelle zu antichambrieren, der Haltung der britischen Außenpolitik informell zu begegnen. Beschlossen wurde schließlich von der Völkerbundsversammlung dieser teilweise etwas frömmelnde Text:
Humanitäres Völkerrecht als Bewegung der Völker
Die Aktivistinnen und Aktivisten von "Save the Children", ihre Verbündeten bei den Rot-Kreuz-Gesellschaften und den nationalen Kinderschutz- und -rechtsbewegungen verlegten sich nach der Verabschiedung der Deklaration von 1924 nicht darauf, Lobbyarbeit für weitergehende und völkerrechtlich verbindliche Normen zu betreiben.
Vielmehr wurde die Deklaration als Ausgangspunkt für die Formulierung nationaler Kinderrechtschartas genommen, die auf die jeweiligen vor allem juristischen Problemlagen vor Ort zu sprechen kamen. In den europäischen Ländern soll dieses Anliegen, so die Historikerin Marshall, recht großen Anklang gefunden haben.
Heute hat das Wort von der "Zivilgesellschaft" einen etwas ungünstigen Beiklang bekommen, weil es mitunter den Anschein hat, dass internationale Organisationen sich aus den Leuten vor Ort Akteure nach ihrem Geschmack zurechtmachen, die dann als "Zivilgesellschaft" firmieren und die Verhältnisse zügig umbauen sollen. Im schlimmsten Fall kommen so demokratische Revolutionäre, wie bei den "Farbrevolutionen" in der Ukraine, in Georgien oder in Jugoslawien in den Ruf, nichts weiter als Agenten fremder Mächte zu sein.
Die Kinderrechtsaktivisten von "Save the Children" waren – dank des zähen Widerstands ihrer eigenen Regierung – jedenfalls solchen Vorwürfen nicht ausgesetzt. Das Modell, international eingeforderte Rechte nicht mittels internationaler Kommissare oder der Bindung nationaler Gerichte an das Völkerrecht durchzusetzen, sondern völkerrechtliche Absichtserklärungen vor Ort mit Kampagnenarbeit zugunsten einer Verbesserung inländischer Normen zu nutzen, gewinnt vielleicht auch heute wieder an Charme.
Literatur:
Mahood, Linda; Satzewich, Vic (2009): The Save the Children Fund and the Russian Famine of 1921–23: Claims and Counter-Claims about Feeding "Bolshevik” Children. In: Journal of Historical Sociology (22), S. 55–83.
Marshall, Dominique (1999): The construction of children as an object of international relations: The Declaration of Children’s Rights and the Child Welfare Committee of League of Nations, 1900–1924. In: The International Journal of Children’s Rights (7), S. 103–147.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Die Geschichte hinter "Save the Children": . In: Legal Tribune Online, 13.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16877 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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