2/2: Was man damals schon über pädophile Pädagogen sagte
Das 50 Jahre alte Blatt bietet auch wirklich gruselige Seiten. Ein wenig fassungslos darf man sich über dem, was man 1965 wusste oder wissen musste, und dem, was dann noch 40, 50 Jahre Zukunft vor sich hatte, die Augen reiben: 1965 berichtet die "Juristenzeitung" von einer Konferenz über "Das sexuell gefährdete und geschädigte Kind", an der "Mediziner, Juristen, Psychologen, Theologen und Sozialarbeiter" teilnahmen. Hochkarätig besetzt, darf man dazu sagen. Sie verhandelte unter anderem sexuellen Missbrauch durch Pädagogen.
Der als Strafrechtskommentator bekannte Karl Lackner vertrat hier beispielsweise "die Auffassung, daß der Schwerpunkt bei der Bekämpfung der Sittlichkeitsdelikte an Kindern auf den Maßregeln liegen müsse". Trotz allgemeinem Fortschrittsglaubens vertrat ein weiterer Referent: "Bestrafung ohne Behandlung sei gegenüber pädophilen Sexualdelinquenten ebenso unangemessen wie bloße Behandlung ohne Strafe". Referentinnen mahnten 1965 einen klugen Umgang mit kindlichen Zeugen im Strafprozess an. Zwei Referenten beschrieben eine Persönlichkeitsstruktur, die des Öfteren bei pädosexuellen Pädagogen zu finden sei, die sich "gerade mit solchen Zöglingen ein[lassen], die charakterlich schwierig seien und keine persönlichen Bindungen entwickelten".
1969 wird ein Gerold Becker Leiter der Odenwaldschule. Das war eine Schule, auf die nicht zuletzt die sogenannte Elite ihre Kinder schickt – unter den Schülern findet man die Namen Dumont, von Weizsäcker, Dohnanyi. Er war viele Jahre später der Verursacher eines bundesdeutschen Skandals größten Formats. Die skandalösen Zustände, hier wie in diversen anderen Bildungseinrichtungen, wurden erst um die Jahrtausendwende öffentlich.
Immerhin setzen sich die offenbar sachdienlichen Erkenntnisse zum mancherorts regelrecht systematischen pädosexuellen Missbrauch, dessen kriminologisch-forensische Seite 1965 gelehrt vorgestellt wurde, seit den 1990er-Jahren allmählich durch.
Bauer und das Abendland
Wenn ein Strafjurist gegen Repression argumentiert, wird es oft interessant. Der berühmte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) diskutiert in der alten JZ das seiner Auffassung nach verfassungsrechtlich grenzwertige "Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften" nach damaligem Verkündigungsstand.
Das Gesetz wendet sich 1965 nicht allein gegen evidente Pornographie, sondern soll – nach Ansicht führender Kommentatoren – die lesende Jugend vor Literatur schützen, die nicht dem "christlich-abendländischen" Geist entspreche. Asphaltliteratur, Großstadt – alles, was nicht Goethe ist, sei gefährlich. Die Idee, das christliche Abendland unter Schutz zu stellen, hält Bauer für "nichtssagend, zumal eine christlich-abendländische Weltanschauung mitunter recht schwer von einer unchristlich-abendländischen zu unterscheiden sein dürfte".
Baur und die Paralleljustiz
Sein Beinahe-Namensvetter, der Zivilprozessgelehrte Fritz Baur (1911-1992), diskutierte ein soziales Phänomen, das nach 50 Jahren eine ähnliche Mischung aus Relevanz und Befremden auslöst wie überbordende Liebe zur diffusen Figur des "christlichen Abendlands": die Paralleljustiz.
1964 hatte das Bundesarbeitsgericht für Recht erkannt, dass einem Mann gekündigt worden war, der sich vor staatlichen Gerichten gegen eine Entscheidung durch die sogenannte "Hausjustiz" seines Betriebes gewehrt hatte. In erster Linie setzte sich Baur 1965 mit der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit jedenfalls einer – mitunter auch in Strafsachen aktiven – Betriebsjustiz auseinander.
Offenbar, rechtssoziologisch wird dies leider nicht vertieft, existierte 1965 ein möglicherweise weit verbreitetes System der erweiterten betrieblichen Selbstjustiz, die sich Konflikten am Arbeitsplatz über eine rein schiedsrichterliche Schlichtung hinaus annahm. Wenn derlei heute von bärtigen Männern in der sogenannten Parallelgesellschaft betrieben wird, scheint es zumindest keine ganz neue Herausforderung für den Rechtsstaat zu sein. Allein, das BAG sollte man in diesem Zusammenhang vielleicht nicht zitieren.
Der Jahrgang 1965 einer rechtswissenschaftlichen Zeitschrift, er ist ein Archiv an belanglos gewordenen, an unfassbar unbearbeiteten, an vielleicht nie zu lösenden sozialen und Rechtsproblemen. Er rückt die 50 Jahre jüngere Gegenwart ein wenig zurecht, ohne in eine völlig fremde Welt zu entführen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, "Aktuelle" Rechtsgeschichten - von 1965: . In: Legal Tribune Online, 01.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14817 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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