2/2: "Sozialethische Rehabilitation" – die Schwammformel
Vielerorts greifen Gemeinderäte auf die Formel von einer "sozialethischen Rehabilitation" der einst verurteilten Hexer und Hexen zurück, um die juristische Frage nach der Zuständigkeit zu umgehen. Die Verbreitung dieser Phrase ist nicht zufällig, denn die entsprechenden, insoweit wortgleichen Rehabilitationsanträge gehen überwiegend, wenn nicht ausschließlich auf die Bemühungen des emeritierten Pfarrers Hartmut Hegeler (geb. 1946) zurück.
Die Formel soll moralisch befriedigen, ohne juristisch zu leisten. Unglaublich leistungsfähig wird sie durch die Unbestimmtheit der "Sozialethik": Der Rat der niedersächsischen Kleinstadt Bramsche könnte sich berufen fühlen, ein "sozialethisches" Unwerturteil darüber auszusprechen, dass im Jahr 9 nach Christus auf dem Boden des Bramscher Ortsteils Kalkriese Tausende römischer Soldaten niedergemetzelt wurden – man wird kaum annehmen dürfen, dass sich die Germanen beim später als "Varusschlacht" genannten Gemetzel an die Haager Landkriegsordnung hielten. Warum sollte die Vereinigung italienischer Pizzabäcker in Deutschland ein geringeres Interesse an der sozialethischen Würdigung ihrer Ahnen haben als der esoterische Flügel des deutschen Feminismus, der seit den 1970er-Jahren mit Hexenfragen ins Kraut schießt – und hier von einem evangelischen Geistlichen bedient wird?
Dass sich "sozialethische" Urteile beinah beliebig treffen lassen, zeigt auch die juristische Literatur und Kasuistik. Im "Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil" von Hans-Heinrich Jescheck und Thomas Weigend soll ein "sozialethisches Unwerturteil" das sogenannte "Wesen der Strafe" beschreiben. Definiert wird dies, wenn man derlei überhaupt eine "Definition" nennen möchte, durch Umschreibungen wie jene, dass die Strafe einen "negativen Akzent" habe und "stets den Charakter eines Übels" trage.
Die juristische Komposition von "sozialethischen" Phrasen beginnt in der rechtswissenschaftlichen Literatur der 1950er-Jahre und wird in den 1960er-Jahren aufgegriffen. Sie dient etwa im Nötigungsstrafrecht dazu, das Abscheukompositum des "gesunden Volksempfindens" zu ersetzen. 1966 bestätigt das Bundesverwaltungsgericht zum Beispiel die Zensur von Ulrich Schamonis – überwiegend harmlosem – Roman "Dein Sohn lässt grüßen", indem es dem Gesetzgeber zubilligt, die Gefahren für eine "sozialethische Fehlentwicklung der Jugend" hinreichend umrissen zu haben (BVerwG, Urt. v. 7. 12. 1966 - Az. V C 47/64). Gegenwärtig diskutiert man über "sozialethische" Einschränkungen des Notwehrrechts. Normativ griffig, wie es im Strafrecht zu erwarten wäre, wird auch hier kaum etwas formuliert.
Ethische Argumentation geht anders
Nach der volkshochschulfähigen Kurzfassung arbeitet eine klare philosophische Argumentation auf dem Gebiet der Ethik mit deontologischen und/oder konsequentialistischen Gedankengängen: Ein normativer Satz über das ethisch Gebotene bzw. Verbotene soll in einer letztlich metaphysischen Pflicht (Deontologie) oder einer generalisierten Folgenabwägung (Konsequentialismus) enden. Der Blick ins philosophische Schriftgut zeigt, dass sich derlei in mathematischer Schärfe formulieren lässt. Die Rede vom "sozialethisch" Gebotenen oder Verbotenen scheint dagegen auf bloßem Empfinden von Gut oder Böse zu beruhen.
Ob das Bamberger Vorgehen, die "sozialethische Rehabilitation" ehedem ortsansässiger Hexer und Hexen aus formalen Gründen abzulehnen, das moralische Empfinden mehr oder weniger befriedigt als die teils unbedarften Beschlüsse in Köln, Osnabrück, Werl und anderenorts mag jeder nach Gusto beurteilen – wie man noch lebende Magier ernsthaft rehabilitiert, machen heute ohnehin die Hexendörfer zum Beispiel im westafrikanischen Ghana vor.
Ratsmitglied in Ghana müsste man sein! Die Vermutung liegt nah, dass deutschen Kommunalpolitikerinnen und -politikern in Hexerei-Angelegenheiten neben der juristischen und stilistischen ("Biogas") Kompetenz mitunter auch die moralisch gebotene Aufmerksamkeit für (noch) lebende Menschen abgeht.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Recht & Moral: . In: Legal Tribune Online, 23.03.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11415 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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