Geschichte der Frauenrechte: Das leere Auditorium von Frau Dr. Kempin

von Martin Rath

14.12.2014

2/2: "Der Schweizer Aktivbürger" ist keine Frau

Das Bezirksgericht lehnte das ab. Nicht etwa, wie man vielleicht erwarten könnte, mangels förmlicher juristischer Qualifikation. Das war in Zürich kein Zulassungshindernis, denn seit dem 1. Januar 1875 war jedem "Aktivbürger" des Kantons erlaubt, anwaltlich tätig zu sein. Man verstand diese wirklich freie Advokatur als radikaldemokratisches Recht, im öffentlichen Raum auftreten zu können. Allerdings waren Frauen nach überwiegender Rechtsauffassung keine Aktivbürger, weil sie kein Stimmrecht bei den Wahlen und Volksabstimmungen hatten – in Zürich wurde das Stimmrecht erst 1970 eingeführt, in der Schweizer Bundesverfassung 1971.

Gegen diesen Beschluss ging Kempin mittels eines "staatsrechtlichen Rekurses" beim Bundesgericht der Schweiz in Lausanne vor. Sie argumentierte unter anderem, dass die Nichtausübung des Wahlrechts seitens der Frauen nicht zwingend darauf schließen lasse, dass es keine weibliche Aktivbürgerschaft gebe. Vielmehr sei das Aktivbürgerrecht "gleichbedeutend mit bürgerlicher Ehrenhaftigkeit". Der Beschluss des Züricher Gerichts verstoße in erster Linie gegen Artikel 4 "der Bundesverfassung, wonach es in der Schweiz keine Vorrechte des Ortes, der Geburt, der Familie oder der Personen gebe", zitiert das Bundesgericht Kempins Argumente. "Gegen diesen Grundsatz verstoße das Bezirksgericht Zürich, wenn es dem weiblichen Schweizerbürger den Besitz des Aktivbürgerrechts abspreche, aus dem einzigen Grunde, weil dieser Schweizerbürger weiblichen Geschlechtes sei."

Oder etwa doch eine Frau? – "Ebenso kühn wie neu"

Das Bundesgericht mochte sich in seinem Urteil vom 29. Januar 1887 dieser Argumentation nicht anschließen: "Wenn nun die Rekurrentin zunächst auf Art. 4 der Bundesverfassung abstellt und aus diesem Artikel scheint folgern zu wollen, die Bundesverfassung postulire die volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter auf dem Gebiete des gesammten öffentlichen und Privatrechts, so ist diese Auffassung eben so neu als kühn; sie kann aber nicht gebilligt werden."

Den Zeitgeist von der Trennung des öffentlichen Raums nach der Geschlechtszugehörigkeit riefen die Schweizer Bundesrichter in Gestalt einer historischen Interpretation an: Keineswegs entbehre es der "innern Begründung", dass "nach der jedenfalls zur Zeit noch zweifellos herrschenden Rechtsanschauung die verschiedene rechtliche Behandlung der Geschlechter auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts, speziell in Bezug auf das Recht der Bethätigung im öffentlichen Leben" erfolge. Weitere Begründungen waren nicht vonnöten.

Karriere als Lobbyistin und Autorin

Wenn auch nicht als Rechtsanwältin oder Universitätsgelehrte in der Schweiz, machte Kempin doch in den USA und im Deutschen Reich öffentlich von sich reden. Zu güterrechtlichen Fragen beriet sie eine der konservativen Fraktionen des Reichstags, in der einzelne Abgeordnete einen nicht gar so patriarchalen Standpunkt bezogen hatten, wie die "Väter des BGB". Kempin schrieb Gutachten und war Ghostwriterin mindestens eines zielführenden Antrags im Gesetzgebungsprozess, der mit unserem Bürgerlichen Gesetzbuch endete.

In den USA machte sie eine sehr kurze Karriere als erste Jura-Dozentin an der New York University. Es heißt, die Rückkehr nach Europa sei wegen Heimwehs ihres Gatten erfolgt. In Berlin und im Brandenburgischen war sie als sachverständige Übersetzerin tätig, an einer Volkshochschule der deutschen Reichshauptstadt unterrichtete sie. Damals war das etwas wert, standen Häkeln und Esoterik ja noch nicht in den VHS-Programmen. 1897 wurde Emilie Kempin erstmals wegen Geisteskrankheit in eine Anstalt eingewiesen. Es wird sich um eine Erkrankung aus dem Formenkreis der Schizophrenie gehandelt haben, aber das ist umstritten. Sie starb im Jahr 1901, erst 48-jährig an Krebs.

Wo diskutiert man normativ böse Fragen?

Man ist nur allzu leicht geneigt, zu sagen: Emilie Kempin hatte es in der bösen, patriarchalen Welt des 19. Jahrhunderts nicht leicht. Das ist sicher richtig. Aber lehrt das für heutige Gleichstellungspolitiken etwas? Die "Wikipedia" sagt, der Fall Kempin zeige, dass das "generische Maskulinum" nicht funktioniere – weil 1887 das Bundesgericht vom Wort "Schweizer" nur Männer bezeichnet sehen wollte, müsste man heute wohl auch Schweizer/innen, Schweizer_innen, Schweizer*innen oder Schweiz_x schreiben.

Kempin lebte in einer Welt, in der Frauen unter der Vormundschaft ihrer Väter oder Gatten standen, eigenes Vermögen oder höhere Bildung waren für sie Mangelware. Eine juristisch hoch gebildete Frau findet vor Gericht kein Gehör? – So ging es zu im Herzen Europas, heute findet sich das im Orient.

Eine Vorlesung zur "Rechtsvergleichung des Eherechts" anzubieten, rührte 1894/95 an eine zentrale Gerechtigkeitsfrage. Es wirft kein gutes Licht auf die Herren Studenten dieses längst vergangenen Wintersemesters, dass sie für die Frauenfrage keine Zeit hatten.

Wie könnte heute eine vergleichbar radikale Frage lauten? Ein Vorschlag: Mit welcher "innern Begründung" wird Menschen die Freizügigkeit auf diesem inzwischen so verflucht kleinen Planeten verweigert, welche Rechtfertigung haben Rechtsinstitute, die Menschen daran hindern, ihr Glück dort zu suchen, wo sie es möchten?

Das leere Auditorium der Doktor iur. Emilie Kempin liefert sicher weniger einen Hinweis darauf, wie schwer es Frauen heute im Wissenschaftsbetrieb haben. Aber womöglich lehrt es, dass die großen Probleme jeder Zeit nur vor sehr kleinen Auditorien offen und anspruchsvoll diskutiert werden.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Geschichte der Frauenrechte: . In: Legal Tribune Online, 14.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14099 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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