Im Wintersemester 1894/95 verirrte sich kein Student mehr in die Vorlesung der Züricher Rechtsdozentin Kempin, obwohl das Thema zu den brisanten ihrer Zeit gehörte: "Rechtsvergleichung in der modernen Ehegesetzgebung". Martin Rath resümiert das Leben der weltberühmten Juristin, die hinter der tristen Zahl aus der uralten Vorlesungsstatistik steckt und ihrer Zeit leider zu weit voraus war.
In der Schweiz dürfte Emilie Kempin jedenfalls unter Juristen zu den bekanntesten Köpfen der Rechtsgeschichte zählen. An der Universität Zürich, dem Ort ihres Scheiterns als akademische Lehrerin, erinnert seit einigen Jahren ein Denkmal an die 1853 als Emilie Spyri in Altstetten (heute: Zürich) geborene Juristin. Johanna Spyri, die auch im "großen Kanton", also Deutschland, recht bekannte Autorin der "Heidi"-Romane war eine angeheiratete Tante.
Mit akademischen Lehrveranstaltungen zu scheitern, kann auch heute noch zum Schicksal nicht mehr ganz junger Nachwuchsgelehrter beiderlei Geschlechts werden. Gut, wenn dann die Berufswahl noch einmal überdacht wird. Das wäre also vielleicht nicht weiter bemerkenswert – zumal: Wenn interessiert ein akademischer Misserfolg, der 120 Jahre zurückliegt? Ist das nicht eine dieser Geschichten, mit denen "Emma" und "Bunte" gleichermaßen die Tränendrüsen drücken? Mitnichten, aber das klären wir später.
Eine, wenn nicht die erste promovierte Juristin
Im Jahr 1883 schrieb sich Emilie Kempin an der Universität Zürich ein und bereits im Juli 1888 wurde sie mit einer magna cum laude benoteten Dissertation über "Die Haftung des Verkäufers einer fremden Sache" promoviert. Frauen waren in Zürich seit 1867 zum Studium zugelassen, die Schweiz war darin in Europa das fortschrittlichste Land. Allerdings blieben die Fortschrittserwartungen limitiert: Eigentlich war mehr daran gedacht worden, Frauen medizinisch auszubilden, aus Gründen der Schicklichkeit. Prüde im Umgang mit dem Körper des jeweils anderen Geschlechts war man ja nicht allein in Queen Victorias Reich.
Zunächst hatte auch Kempin mit der Medizin geliebäugelt. Als sie ihr Studium antrat, war sie überhaupt eine gestandene Frau von Anfang 30, Mutter von drei Kindern, verheiratet mit dem evangelisch-reformierten Theologen Walther Kempin (1850-1926), der seine Pfarrstelle und damit den Lebensunterhalt seiner Familie aber wegen politischer Querelen verlor. Er sollte nach dem Tod seiner Frau noch als BWL-Lehrer unter anderem in Köln reüssieren. Emilie Kempin strebte, weil ihr der Anwaltsberuf in Zürich nicht zum dringend notwendigen Broterwerb offenstand, ein erstes Mal eine akademische Karriere in Zürich an.
Frauen dürfen studieren, aber nicht unterrichten
Nach der Promotion begann Kempin im Sommersemester 1888 damit, an der Universität Zürich eine Vorlesung zum römischen Recht zu halten. Der Dekan, Friedrich Meili (1848-1914), der die Kempin seit geraumer Zeit als Hilfskraft in seiner Anwaltspraxis beschäftigt hatte – und dies offenbar zu seiner Zufriedenheit –, widersprach einer förmlichen akademischen Lehrbefugnis. Neben einer Vorschrift des Züricher Unterrichtsgesetzes soll hier auch das gegriffen haben, was 1888 die "political correctnes" ausmachte (damals aber wohl noch als "Zeitgeist" firmierte). Gern und nicht zu Unrecht wird zur korrekten Rolle der Frau in Recht und Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts der deutsche Zivilrechtslehrer Otto von Gierke (1841-1921) zitiert:
"Mir scheint das Verlangen nach Zulassung der Frauen zum juristischen Studium lediglich dann einen Sinn zu haben, wenn damit die Forderung verknüpft wird, daß den Frauen auch die Ablegung der juristischen Staatsprüfungen ermöglicht und mindestens der eine oder andere der dadurch bedingten Männerberufe erschlossen werde. Also weibliche Rechtsanwälte und Notare? Oder weibliche Richter? Oder weibliche Staatsanwälte? Oder weibliche Verwaltungsbeamte? Mit jedem Schritt vorwärts beträte man hier die abschüssige Bahn, auf der es kein Halt giebt, bis die Austilgung des Unterschieds der Geschlechter im öffentlichen Recht erreicht ist."
Öffentliches Recht ist der Ort, dem Frauen fremd sind
Wer jemals in der Verlegenheit war, in einem Grenzfall zu prüfen, ob in einer Rechtssache die Zuständigkeit der Zivilgerichtsbarkeit oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegeben ist oder mit den gummiartigen sogenannten "Theorien" zur Abgrenzung von öffentlichem und Zivilrecht befassen musste, dürfte ein Gefühl für die Sorgen Otto von Gierkes haben – nicht, was die Moral seiner Aussage, aber was das Bedürfnis nach griffigen Kriterien angeht. Denn statt bloß windelweicher "Theorien" zur Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht hatten die Juristen seiner Epoche auch ein klares gesellschaftliches Vorverständnis davon, wie Öffentlichkeit und Privatheit zu trennen waren: Öffentlich war, wo Frauen nicht entscheidend mitzureden hatten.
Emilie Kempin stellte dieses mächtige Vorverständnis 1886 auf die Probe. Ihr Mann, der seine Pfarrstelle verloren hatte, versuchte sich im preußischen Elberfeld (heute: Wuppertal) als Journalist. Daheim in Zürich geriet er derweil mit einer Frau Schweizer-Körner in die Verstrickungen einer zivilrechtlichen Klage und Widerklage. Am 24. November 1886 trat nun Emilie Kempin, die Jura-Studentin, vor dem Bezirksgericht Zürich mit dem Begehren auf, ihren Gatten in dieser Sache anwaltlich vertreten zu dürfen.
Martin Rath, Geschichte der Frauenrechte: . In: Legal Tribune Online, 14.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14099 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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