2/2: Die ständige Neueinschwörung
Der junge Ernst Friesenhahn sah 1928 bereits einen weiteren Grund, keine allzu weitreichenden Hoffnungen darauf zu legen, der unterstellte Bruch eines promissorischen politischen Eids ließe sich anders als politisch sanktionieren. Auf die Frage, was es heiße, "auf die Verfassung" vereidigt zu werden, antwortete Friesenhahn im Anschluss an seinen akademischen Ziehvater Carl Schmitt (1888–1985): Gemeint sein könnten hier allein die zentralen Verfassungsprinzipien, beispielsweise die Distinktion von Republik und Monarchie, nicht das dogmatisch Kleingedruckte. Heute also wohl eher änderungsfeste Dinge – Artikel 79 Abs. 3 GG – als jedes Euro-Rettungsfonds-Detail.
Anderenfalls, um diesen Gedanken zuzuspitzen, müsste das auf den Eid nach Artikel 56 GG vereidigte politische Personal bei jeder Verfassungsänderung, ja nach Inkrafttreten jedes neuen Gesetzes, frisch vereidigt werden. Denn immerhin ändert sich doch der normative Bestand dessen, was Kanzler und Minister zu "wahren und zu verteidigen" versprechen, mit jeder Druckseite im Bundesgesetzblatt.
Problem des politischen Eids gelöst?
Man könnte annehmen, dass mit diesem – wohl nicht unfairen – argumentum ad absurdum jede Äußerung darüber, ein Kanzler oder Minister habe seinen Amtseid verletzt, in jenen rhetorischen Bereich fällt, dem man nicht mehr zuhören mag: dem gedankenlosen Schwadronieren von TV-Kabarett und Online-Kommentariat.
Den politischen Eid jedoch allein auf seine ethische Appellfunktion und auf eine Gelegenheit zu "mehr Lametta" (Loriot) zu reduzieren, wird ihm nicht ganz gerecht.
In der Schweiz, einem Land, in dem traditionell weitaus mehr geschworen wird als hierzulande und der Eid eine ebenso seriöse wie putzige Funktion hat – hier verschwört sich der Mensch noch ausdrücklich zu einem Staatswesen, statt es für ein unhintergehbares Naturereignis zu nehmen –, wird die normative Kraft des promissorischen politischen Eids gelegentlich mit großem Ernst diskutiert.
Selbst wenn auch in der Eidgenossenschaft zu konstatieren sei, dass – mit Friesenhahn – letztlich weniger Wert auf die formale Kontinuität der Verfassung als auf die "endgültige Faktizität" gelegt werde, gibt Thomas P. Hodel (1962–) in seiner Dissertation "Der politische Eid in der Schweiz" (1992) folgendes Beispiel:
"Wird in der Schweiz ein Verfassungseid geleistet und kommt in der Folge als eine neue Verfassungs-Bestimmung der Grundsatz 'Die Schweiz nimmt keine Flüchtlinge auf' hinzu, so geht der Verfassungseid unter. Denn der Eid ist unter bestimmten Umständen – hier beispielsweise unter der Vorstellung einer humanitären Schweiz – geleistet worden. Wird von diesen Umständen radikal abgewichen, ist die Veränderung im Eidesobjekt eine wesentliche, und die 'clausula rebus sic standibus' muss greifen."
Ausgrenzung nach verweigertem Eid
Auch wenn es neben der Schweiz mit den USA eine weitere alte Republik ist, die dem promissorischen politischen Eid höheren Wert beilegt, als er in Deutschland gehandelt wird, hielt vor allem die britische Rechtsgeschichte eine Vielzahl mitunter bizarrer Schwursachen bereit.
Noch heute werden bekanntlich nach jeder Unterhauswahl einige nordirische Anhänger der republikanischen Regierungsform daran gehindert, ihren Sitz im Londoner House of Commons einzunehmen, weil sie den Treueeid auf die Königin verweigern.
Der Abgeordneten-Eid funktioniert also als eine Art Verfassungsschutzritual (ob man darüber mit einem sparsamer wirtschaftenden Inlandsgeheimdienst auskommt, wäre eine interessante Frage). Historisch diente der Eid zunächst vor allem dazu, Juden und Katholiken, schließlich – nachdem Nichtanglikaner zugelassen waren – immerhin noch Atheisten vom Parlament fernzuhalten. Ende des 19. Jahrhunderts kam es etwa zu absolut Slapstick-reifen Szenen, als ein bis dahin bekennender Atheist, die Bibel in der Hand, um seines Mandats willen nunmehr seinen Gottesglauben heuchelte, ohne dass ihm seine Kollegen dies abnehmen wollten.
So albern alles in allem die Idee ist – sie wird aber im Zusammenhang mit den kommenden Eidesleistungen trotzdem wieder durch die Social Media spuken –, den politischen Amtseid als normative, justiziable Erklärung handhaben zu wollen, bietet vielleicht trotzdem das Folgende ein interessantes Gedankenspiel:
Wie hätte z. B. 1983 ein Parlamentarier-Eid aussehen müssen, der einen Konsens zwischen den Abgeordneten der etablierten Parteien und den neuen – damals mit vielen Linksradikalen und nicht wenigen Ökofaschisten gestraften – "Grünen" in eine schwörbare "Textform" bringt?
Wie würde ein solcher Eid heute aussehen, als rein als heuristisches Gedankenspiel mit dem Anspruch formuliert, die Abgeordneten auf einen größten gemeinsamen Wertebereich einzuschwören, und sich jede weitere Kommunikation mit denjenigen zu ersparen, die sich nicht auf diesen Schwur einlassen wollten?
Der Autor Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Der Amtseid: . In: Legal Tribune Online, 11.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27439 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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