Heirat und Scheidung zwischen Religion und Recht: Rab­biner üben keine rus­si­sche Staats­ge­walt aus

08.11.2015

Imperien brechen zusammen, Menschen werden entwurzelt und fliehen ins Unbekannte. Eines jedoch hatten Menschen im Exil schon vor 100 Jahren mit denen gemeinsam, auf die sie in der neuen Heimat treffen: Eheprobleme. Doch welches Recht gilt?

Ein Mann und eine Frau heiraten nach religiösem und staatlichem Recht, sehen sich selbst kurze Zeit darauf als nach göttlichem Recht geschiedene Leute an – oder auch nicht. Zudem sind sie möglicherweise Ausländer, jedenfalls keine Deutschen. Eine von Staats wegen nicht zuständige Einrichtung von Geistlichen einer Minderheitenreligion in Berlin hat an dem Scheidungsprozess mitgewirkt – kurz, es ist der Stoff, wegen dem heutzutage besorgte Bürger das Abendland dem Untergang geweiht sehen. Verhandelt wurde die Sache in den Jahren 1925/26 vor dem Kammergericht zu Berlin, dann vor dem Reichsgericht in Leipzig.

In diesem Fall hatte der "aus dem vormals russischen Kreis Kowno gebürtige jüdische Kläger und die jüdische Beklagte … im Jahre 1902 in London vor einem Standesamt sowie nach mosaischem Ritus in einer Synagoge die Ehe miteinander geschlossen", teilt das Reichsgericht in seinem Urteil mit - man beachte die Zeichensetzung dabei: "Im Jahre 1907 wurde die Ehe von einem Rabbinatskollegium in Berlin 'nach den Vorschriften des mosaischen Ritus wieder gelöst'." Distanzierende Anführungszeichen sind kein allzu gern gesehenes Stilmittel staatlicher Entscheidungen, doch schien die Auflösung einer Ehe durch ein Gremium jüdischer Schriftgelehrter in der Hauptstadt des Deutschen Reiches im Jahre 1907 hinreichend wunderlich – und war es doch eigentlich nicht.

Der Zar ist tot, sein Recht lebt weiter

Der Prozess lief 1925/26 schon einige Jahre: Bereits im Jahr 1908 klagten vor dem Landgericht Berlin I die Eheleute, die es nach religiösem Recht vielleicht gar nicht mehr waren, wechselseitig auf Scheidung wegen Ehebruchs der jeweils anderen Partei. Dieser Vorwurf war sowohl nach dem Schuldprinzip des damaligen deutschen Ehescheidungsrechts ein anerkannter Scheidungsgrund und ist es nach jüdischem Recht bis heute. Gut zehn Jahre ruhte das Verfahren, ein Weltkrieg kam, danach stritten die beiden weiter. Inzwischen war das Zarenreich in Nachfolgestaaten zerfallen und das vom Reichsgericht so genannte Sowjet-Russland hatte mit jeder überkommenen Moral gebrochen, auch auf dem Gebiet des Eherechts.

Das rechtliche Problem, das sich dem Land-, Kammer- und Reichsgericht vorab stellte, betraf die Frage, ob die Ehe bereits 1907 vor dem Berliner Rabbinatskollegium geschieden worden war. Anlass zum Nachdenken gab die etwas anachronistische russische Gesetzgebung.

Denn das Eherecht des russischen Kaiserreichs war auch nach den damaligen Maßstäben der zivilisierteren Staaten Europas ein wenig eigenwillig. So hieß es in § 65 des russischen Reichsgesetzbuchs: "Die Ehen der Personen aller christlichen Bekenntnisse müssen nach ihren Satzungen von der Geistlichkeit derjenigen Kirche geschlossen werden, welcher die in den Ehestand tretenden angehören."

Konfessionelles Recht als Freiraum und Zwang

Der § 1113 des russischen Reichsgesetzbuchs sah zudem vor: "Die Ehe aber wird in allen in Rußland geduldeten Glaubensbekenntnissen, Mohammedaner, Juden und Heiden nicht ausgenommen, als gesetzlich anerkannt, wenn sie nach den Vorschriften und Gebräuchen ihres Glaubens geschlossen ist."

Das damals wie heute multikulturelle und multikonfessionelle russische Imperium erkannte damit nicht allein an, was es an unterschiedlichen Eheformen in seinen Reichsteilen vorfand - neben der christlichen Orthodoxie also beispielsweise Lutheraner im Baltikum, Muslime im Kaukasus oder auf der Krim, animistische "Heiden" in Sibirien. Es gab ihnen die Freiheit, Form und Voraussetzung der Eheschließung zu regeln.

Darüber hinaus war der konsularische Dienst des russischen Kaiserreichs angewiesen, jene Untertanen des Zaren, die sich auf Auslandsreisen oder im Exil dem Wunsch zu heiraten anheimfielen, dringend darauf hinzuweisen, dass eine standesamtliche Heirat nach russischem Recht stets wertlos sei, nur ein religiöses Eheband vor den Augen der russischen Reichsbehörden zähle.

Das konnte für die Eheleute zu unangenehmen Konsequenzen führen. Schloss beispielsweise eine deutsche Frau in Deutschland mit einem Russen nur standesamtlich die Ehe, verlor sie damit zwar ihre deutsche Staatsangehörigkeit, erwarb aber nicht die ihres Mannes, weil sie nach kaiserlich-russischem Recht ohne die rituelle Vermählung ihrer Religionsgemeinschaft nicht als verheiratet galten.

Zitiervorschlag

Heirat und Scheidung zwischen Religion und Recht: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17461 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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