Imperien brechen zusammen, Menschen werden entwurzelt und fliehen ins Unbekannte. Eines jedoch hatten Menschen im Exil schon vor 100 Jahren mit denen gemeinsam, auf die sie in der neuen Heimat treffen: Eheprobleme. Doch welches Recht gilt?
Ein Mann und eine Frau heiraten nach religiösem und staatlichem Recht, sehen sich selbst kurze Zeit darauf als nach göttlichem Recht geschiedene Leute an – oder auch nicht. Zudem sind sie möglicherweise Ausländer, jedenfalls keine Deutschen. Eine von Staats wegen nicht zuständige Einrichtung von Geistlichen einer Minderheitenreligion in Berlin hat an dem Scheidungsprozess mitgewirkt – kurz, es ist der Stoff, wegen dem heutzutage besorgte Bürger das Abendland dem Untergang geweiht sehen. Verhandelt wurde die Sache in den Jahren 1925/26 vor dem Kammergericht zu Berlin, dann vor dem Reichsgericht in Leipzig.
In diesem Fall hatte der "aus dem vormals russischen Kreis Kowno gebürtige jüdische Kläger und die jüdische Beklagte … im Jahre 1902 in London vor einem Standesamt sowie nach mosaischem Ritus in einer Synagoge die Ehe miteinander geschlossen", teilt das Reichsgericht in seinem Urteil mit - man beachte die Zeichensetzung dabei: "Im Jahre 1907 wurde die Ehe von einem Rabbinatskollegium in Berlin 'nach den Vorschriften des mosaischen Ritus wieder gelöst'." Distanzierende Anführungszeichen sind kein allzu gern gesehenes Stilmittel staatlicher Entscheidungen, doch schien die Auflösung einer Ehe durch ein Gremium jüdischer Schriftgelehrter in der Hauptstadt des Deutschen Reiches im Jahre 1907 hinreichend wunderlich – und war es doch eigentlich nicht.
Der Zar ist tot, sein Recht lebt weiter
Der Prozess lief 1925/26 schon einige Jahre: Bereits im Jahr 1908 klagten vor dem Landgericht Berlin I die Eheleute, die es nach religiösem Recht vielleicht gar nicht mehr waren, wechselseitig auf Scheidung wegen Ehebruchs der jeweils anderen Partei. Dieser Vorwurf war sowohl nach dem Schuldprinzip des damaligen deutschen Ehescheidungsrechts ein anerkannter Scheidungsgrund und ist es nach jüdischem Recht bis heute. Gut zehn Jahre ruhte das Verfahren, ein Weltkrieg kam, danach stritten die beiden weiter. Inzwischen war das Zarenreich in Nachfolgestaaten zerfallen und das vom Reichsgericht so genannte Sowjet-Russland hatte mit jeder überkommenen Moral gebrochen, auch auf dem Gebiet des Eherechts.
Das rechtliche Problem, das sich dem Land-, Kammer- und Reichsgericht vorab stellte, betraf die Frage, ob die Ehe bereits 1907 vor dem Berliner Rabbinatskollegium geschieden worden war. Anlass zum Nachdenken gab die etwas anachronistische russische Gesetzgebung.
Denn das Eherecht des russischen Kaiserreichs war auch nach den damaligen Maßstäben der zivilisierteren Staaten Europas ein wenig eigenwillig. So hieß es in § 65 des russischen Reichsgesetzbuchs: "Die Ehen der Personen aller christlichen Bekenntnisse müssen nach ihren Satzungen von der Geistlichkeit derjenigen Kirche geschlossen werden, welcher die in den Ehestand tretenden angehören."
Konfessionelles Recht als Freiraum und Zwang
Der § 1113 des russischen Reichsgesetzbuchs sah zudem vor: "Die Ehe aber wird in allen in Rußland geduldeten Glaubensbekenntnissen, Mohammedaner, Juden und Heiden nicht ausgenommen, als gesetzlich anerkannt, wenn sie nach den Vorschriften und Gebräuchen ihres Glaubens geschlossen ist."
Das damals wie heute multikulturelle und multikonfessionelle russische Imperium erkannte damit nicht allein an, was es an unterschiedlichen Eheformen in seinen Reichsteilen vorfand - neben der christlichen Orthodoxie also beispielsweise Lutheraner im Baltikum, Muslime im Kaukasus oder auf der Krim, animistische "Heiden" in Sibirien. Es gab ihnen die Freiheit, Form und Voraussetzung der Eheschließung zu regeln.
Darüber hinaus war der konsularische Dienst des russischen Kaiserreichs angewiesen, jene Untertanen des Zaren, die sich auf Auslandsreisen oder im Exil dem Wunsch zu heiraten anheimfielen, dringend darauf hinzuweisen, dass eine standesamtliche Heirat nach russischem Recht stets wertlos sei, nur ein religiöses Eheband vor den Augen der russischen Reichsbehörden zähle.
Das konnte für die Eheleute zu unangenehmen Konsequenzen führen. Schloss beispielsweise eine deutsche Frau in Deutschland mit einem Russen nur standesamtlich die Ehe, verlor sie damit zwar ihre deutsche Staatsangehörigkeit, erwarb aber nicht die ihres Mannes, weil sie nach kaiserlich-russischem Recht ohne die rituelle Vermählung ihrer Religionsgemeinschaft nicht als verheiratet galten.
2/2: Fortdauernd kontrovers: jüdisches Scheidungsrecht
Nach diesem Prinzip wäre eine Scheidung nach jüdischem Recht, wie vor dem Berliner Rabbinatskollegium vorgenommen, nach kaiserlich-russischem Recht anerkannt worden. Die Idee, dass die streitenden Parteien womöglich schon keine Eheleute mehr waren, schien den deutschen Richtern also nicht grundsätzlich absurd.
Die Richter am Landgericht Berlin I waren zudem, wie im Reichsgerichtsurteil durchscheint, offenbar derart fasziniert vom revolutionär neuen Recht Sowjetrusslands – es sah die extrem moderne Scheidung allein aufgrund wechselseitiger Willenserklärungen vor –, dass sie im Fall der jüdischen Eheleute auch das bolschewistische Ehescheidungsrecht in Betracht gezogen hatten – obwohl der Mann aus dem inzwischen zur Republik Litauen zählenden Kaunas (Kowno) stammte.
Nach jüdischem Eherecht ist die Scheidung ein eher rechtsgeschäftlicher Vorgang: Der Mann erklärt den Wunsch zur Beendigung der Ehe mit einem Scheidungsbrief, dem sogenannten "Get". Nach einer bereits mehrhundertjährigen Tradition wird ein gewisser Konsens dadurch erreicht, dass die Frau die Annahme des Get verweigern kann, wenn etwa die wirtschaftlichen Folgen der Scheidung nicht interessengerecht geregelt wurden.
Bemerkenswert ist das Verhältnis der Staaten zu dieser rechtsgeschäftlichen Scheidung. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1812 erkannte sie beispielsweise an, schrieb aber in seinen §§ 134, 135 gewisse Bemühungen des Rabbiners vor, die Ehe zu erhalten. Im US-Bundesstaat New York können Gerichte die zivilrechtliche Scheidung jüdischer Eheleute davon abhängig machen, dass der Mann der Frau den Get als Beseitigung von Ehehindernissen erteilt: Denn Kindern, die aus einer neuen Beziehung einer Frau hervorgehen, die keinen Scheidungsbrief erhalten hat, haftet nach der religiösen Doktrin der Makel an, aus einem Ehebruch entstanden zu sein – ein Zustand, der im geografischen Hauptanwendungsgebiet jüdischen Rechts, also im Staat Israel, mitunter zur Ausübung staatlichen Zwangs auf Ehemänner führt, die den Get nicht erteilen möchten.
Hausgemachte Rechtsprobleme umgehen
Trotz der hierzulande sehr überschaubaren Größe ihrer Glaubensgemeinschaft nimmt sich solcher "hausgemachten" Rechtsprobleme drei- bis viermal jährlich wieder ein Rabbinerkollegium an, das seinen Sitz folgerichtig in jener Stadt hat, die auch ganz konfessionsfrei als Hort hausgemachter Probleme gilt, also in Berlin.
Vor 90 Jahren waren solche Kautelen indes noch von sehr seriöser Natur. Das Reichsgericht sah sich etwa veranlasst, auf den Vorrang staatlichen Rechts hinzuweisen, der den zugezogenen Ex- und Exilrussen jüdischen Glaubens wegen des Eherechts ihres zaristischen Heimatlands nicht bewusst sein musste. Es stellte klar, dass § 76 Satz 2 des Personenstandsgesetz von 1875 – "Eine geistliche oder eine durch die Zugehörigkeit zu einem Glaubensbekenntniß bedingte Gerichtsbarkeit findet nicht statt." – auch für streitende Eheleute gilt, deren Heimatland eine solche geistliche Gerichtsbarkeit anerkennt – oder im Fall Litauens das Recht des russischen Zarenreichs noch nicht beseitigt hatte.
Das staatliche Eheschließungs- und -scheidungsmonopol scheint seinerzeit noch nicht selbstverständlich gewesen zu sein. Beispielsweise wies das Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 19. August 1920 das Standesamt an, auf der Heiratsurkunde zweier jüdischer Eheleute russischer Staatsangehörigkeit zu vermerken, dass ein deutscher Rabbiner die Ehescheidung nach "jüdisch-talmudischem Recht" testiert habe (RG 4. Zivilsenat Beschluss vom 21.04.1921 IVb 1/21, RGZ 102, 118-127) – ein schöner Weg, um aus den hässlichen Streitigkeiten des deutschen Verschuldensprinzips im Scheidungsrecht herauszukommen.
Das Reichsgericht beendete dieses Anliegen letztlich, allerdings nicht mit dem heute üblichen Feldgeschrei, demzufolge der wahlweise säkulare Staat oder das christliche beziehungsweise neuerdings sogenannte jüdisch-christliche Abendland bedroht sei, sondern mit dem schlichten Argument, dass ein inländischer Geistlicher keine an sich anerkennenswerte ausländische Staatsgewalt, hier die des russischen Imperiums, ausüben könne.
Die Kunst, sich in solchen Dingen nicht künstlich aufzuregen, müssen heute leider doch viele wieder lernen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Heirat und Scheidung zwischen Religion und Recht: Rabbiner üben keine russische Staatsgewalt aus . In: Legal Tribune Online, 08.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17461/ (abgerufen am: 02.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag