Heirat und Scheidung zwischen Religion und Recht: Rab­biner üben keine rus­si­sche Staats­ge­walt aus

08.11.2015

2/2: Fortdauernd kontrovers: jüdisches Scheidungsrecht

Nach diesem Prinzip wäre eine Scheidung nach jüdischem Recht, wie vor dem Berliner Rabbinatskollegium vorgenommen, nach kaiserlich-russischem Recht anerkannt worden. Die Idee, dass die streitenden Parteien womöglich schon keine Eheleute mehr waren, schien den deutschen Richtern also nicht grundsätzlich absurd.

Die Richter am Landgericht Berlin I waren zudem, wie im Reichsgerichtsurteil durchscheint, offenbar derart fasziniert vom revolutionär neuen Recht Sowjetrusslands – es sah die extrem moderne Scheidung allein aufgrund wechselseitiger Willenserklärungen vor –, dass sie im Fall der jüdischen Eheleute auch das bolschewistische Ehescheidungsrecht in Betracht gezogen hatten – obwohl der Mann aus dem inzwischen zur Republik Litauen zählenden Kaunas (Kowno) stammte.

Nach jüdischem Eherecht ist die Scheidung ein eher rechtsgeschäftlicher Vorgang: Der Mann erklärt den Wunsch zur Beendigung der Ehe mit einem Scheidungsbrief, dem sogenannten "Get". Nach einer bereits mehrhundertjährigen Tradition wird ein gewisser Konsens dadurch erreicht, dass die Frau die Annahme des Get verweigern kann, wenn etwa die wirtschaftlichen Folgen der Scheidung nicht interessengerecht geregelt wurden.

Bemerkenswert ist das Verhältnis der Staaten zu dieser rechtsgeschäftlichen Scheidung. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1812 erkannte sie beispielsweise an, schrieb aber in seinen §§ 134, 135 gewisse Bemühungen des Rabbiners vor, die Ehe zu erhalten. Im US-Bundesstaat New York können Gerichte die zivilrechtliche Scheidung jüdischer Eheleute davon abhängig machen, dass der Mann der Frau den Get als Beseitigung von Ehehindernissen erteilt: Denn Kindern, die aus einer neuen Beziehung einer Frau hervorgehen, die keinen Scheidungsbrief erhalten hat, haftet nach der religiösen Doktrin der Makel an, aus einem Ehebruch entstanden zu sein – ein Zustand, der im geografischen Hauptanwendungsgebiet jüdischen Rechts, also im Staat Israel, mitunter zur Ausübung staatlichen Zwangs auf Ehemänner führt, die den Get nicht erteilen möchten.

Hausgemachte Rechtsprobleme umgehen

Trotz der hierzulande sehr überschaubaren Größe ihrer Glaubensgemeinschaft nimmt sich solcher "hausgemachten" Rechtsprobleme drei- bis viermal jährlich wieder ein Rabbinerkollegium an, das seinen Sitz folgerichtig in jener Stadt hat, die auch ganz konfessionsfrei als Hort hausgemachter Probleme gilt, also in Berlin.

Vor 90 Jahren waren solche Kautelen indes noch von sehr seriöser Natur. Das Reichsgericht sah sich etwa veranlasst, auf den Vorrang staatlichen Rechts hinzuweisen, der den zugezogenen Ex- und Exilrussen jüdischen Glaubens wegen des Eherechts ihres zaristischen Heimatlands nicht bewusst sein musste. Es stellte klar, dass § 76 Satz 2 des Personenstandsgesetz von 1875 – "Eine geistliche oder eine durch die Zugehörigkeit zu einem Glaubensbekenntniß bedingte Gerichtsbarkeit findet nicht statt." – auch für streitende Eheleute gilt, deren Heimatland eine solche geistliche Gerichtsbarkeit anerkennt – oder im Fall Litauens das Recht des russischen Zarenreichs noch nicht beseitigt hatte.

Das staatliche Eheschließungs- und -scheidungsmonopol scheint seinerzeit noch nicht selbstverständlich gewesen zu sein. Beispielsweise wies das Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 19. August 1920 das Standesamt an, auf der Heiratsurkunde zweier jüdischer Eheleute russischer Staatsangehörigkeit zu vermerken, dass ein deutscher Rabbiner die Ehescheidung nach "jüdisch-talmudischem Recht" testiert habe (RG 4. Zivilsenat Beschluss vom 21.04.1921 IVb 1/21, RGZ 102, 118-127) – ein schöner Weg, um aus den hässlichen Streitigkeiten des deutschen Verschuldensprinzips im Scheidungsrecht herauszukommen.

Das Reichsgericht beendete dieses Anliegen letztlich, allerdings nicht mit dem heute üblichen Feldgeschrei, demzufolge der wahlweise säkulare Staat oder das christliche beziehungsweise neuerdings sogenannte jüdisch-christliche Abendland bedroht sei, sondern mit dem schlichten Argument, dass ein inländischer Geistlicher keine an sich anerkennenswerte ausländische Staatsgewalt, hier die des russischen Imperiums, ausüben könne.

Die Kunst, sich in solchen Dingen nicht künstlich aufzuregen, müssen heute leider doch viele wieder lernen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Heirat und Scheidung zwischen Religion und Recht: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17461 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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