2/2: Sachsen-Coburg-Prinz als Lehnsmann des Sultans
Zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung sah sich das Reichsgericht in einem vorangegangenen Fall veranlasst; hier ging es um den Status eines deutschen Fürstensohns, der formal seiner Kaiserlichen Majestät Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) unterworfen war, zwischen 1876 und 1909 Herr des Osmanischen Reichs.
Zwischen 1879 und 1886 war zunächst der hessische Adelige Alexander von Battenberg (1857–1893) gewählter Fürst von Bulgarien gewesen, hatte aber im Machtkampf zwischen westlichen Liberalen und russlandfreundlichen Kräften Bulgariens keine Figur gemacht. Zu seinem Nachfolger wurde Prinz Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha (1861–1948) bestimmt.
Gegen diesen neuen regierenden Fürsten von Bulgarien machte sich, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte einer Reihe von Beleidigungen mit den Mitteln der Presse schuldig. Das Landgericht Gotha verurteilte ihn nach der damals gültigen Fassung des § 97 StGB wegen Beleidigung des Mitglieds dieses regierenden sächsischen Fürstenhauses.
Die Revision rügte, dass der mögliche Irrtum des Angeklagten über das Tatbestandsmerkmal der "Mitgliedschaft im landesherrlichen Haus" nicht gewürdigt worden sei – das Reichsgericht hob, der Rüge entsprechend, auf und verwies zurück.
Zweck der Vorschrift sei, durch den Ehrenschutz der Familie mittelbar die Ehre des im jeweiligen deutschen Teilstaat regierenden Fürsten zu verteidigen. Das "Hausgesetz für das Herzoglich sachsen-coburg-gothaische Haus vom 1. März 1855" bestimmte, nach Feststellung des Reichsgerichts, "Umfang und Inhalt der Gewaltherrschaft" des Familienchefs. Ausdrücklich von dieser "eximiert sein sollen: diejenigen Mitglieder des Herzoglichen Hauses, welche einen auswärtigen Thron eingenommen haben, nebst deren Gemahlinnen, ferner die Nachkommen solcher auswärts regierenden Mitglieder, falls sie nicht zugleich Descendenten des regierenden Herzogs von Sachsen-Coburg und Gotha sind".
"Beleidigungsfähige" Fürsten bestimmt das Gesetz immer neu
Damit war festgestellt: Strafrechtlich geschützt ist die fürstenrechtlich durch das Hausgesetz geregelte Beziehung, nicht die bloß blutsmäßige Verwandtschaft. Eine Beleidigung als Mitglied des sächsischen Kleinfürstenhauses würde – so das Reichsgericht – daher ausscheiden, "wenn feststände, daß der Beleidigte zur Zeit der Deliktsausübung souveräner Fürst von Bulgarien gewesen sei. Diese Voraussetzung trifft jedoch nicht zu. Denn einmal ist […] Bulgarien kein souveränes, sondern ein zwar autonomes, aber suzeränes und tributäres Fürstentum unter der Oberhoheit des Sultans."
Außerdem fehle es dem gewählten Fürsten von Bulgarien bislang an der Bestätigung durch die Hohe Pforte, also durch Sultan Abdülhamid. Auch die völkerrechtlichen "Paten" des sich aus dem Osmanischen Reich lösenden Bulgariens hatten Prinz Ferdinand noch nicht ihren Segen gegeben.
Im objektiven Tatbestand mochte damit eine Beleidigung des inländischen Prinzen vorgelegen haben, doch sah das Reichsgericht Grund, zur Prüfung eines Irrtums über die Eigenschaft des Prinzen als "Mitglied des landesherrlichen Hauses", § 59 StGB a.F., zurückzuverweisen (RG Urt. v. 28.9.1891, Az. 1752/91) – es hatte ja selbst mehrere Druckseiten benötigt, die fürstenrechtlichen Vorfragen zu beantworten.
Wie eine still entsorgte Briefmarkensammlung
Souveräner Fürst und sogar "Zar" von Bulgarien sollte Ferdinand erst 1908 werden, im Windschatten der österreichischen Annexion von Bosnien – einem Vorgeplänkel des Ersten Weltkriegs.
Auch nach dem Sturz der Fürstenhäuser – staatsrechtliches Ergebnis dieses Weltkriegs in Deutschland –, blieben die Vorrechte der regierenden Fürstenhäuser formal noch in den diversen Einführungsgesetzen erhalten, u.a. zur Zivil- und Strafprozessordnung, z.B. § 5 Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG):
"In Ansehung der Landesherren und der Mitglieder der landesherrlichen Familien, sowie der Mitglieder der Fürstlichen Familie Hohenzollern finden die Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes nur insoweit Anwendung, als nicht besondere Vorschriften der Hausverfassungen oder der Landesgesetze abweichende Bestimmungen enthalten. […]"
Zum Teil scheinen diese Normen, die nicht weniger als eine weitgehende bürgerlich- und verfahrensrechtliche Autonomie der deutschen Fürstenhäuser enthielten, nie explizit vom demokratischen Gesetzgeber, sondern erst durch eine klandestine Textbereinigung aus dem Gesetz getilgt worden zu sein – obwohl die Reichsregierung bereits 1920 erkannte, man müsse bei den fürstlichen Vorrechten auch einfachgesetzlich aufräumen.
Abgesehen von einigen originellen Lösungen auf erbrechtlichem Gebiet, die von den deutschen Blaublütern bis heute gepflegt werden, war der § 103 StGB – der ursprünglich die Gleichstellung ausländischer Fürsten mit ihren innerdeutschen Kollegen regelte – das letzte Erinnerungsstück an eine Zeit, in der legitime Herrschaft noch von Oligarchen und Mafiaclans mit gut gepflegtem Stammbaum ausging.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Das Relikt der Majestätsbeleidigung: . In: Legal Tribune Online, 06.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23797 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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