Kriegsverbrecherprozesse in Hamburg 1946: Die Curio­haus-Ver­fahren

von Martin Rath

20.03.2016

2/2: Britisches Militärrecht zu Kriegsverbrechern

Es kamen weitere Zeugnisse hinzu, die ein Wissen oder wenigstens Wissenmüssen der Angeklagten nahelegten, was den Einsatz ihres bewährten Schädlingsbekämpfungsmittels zum systematischen Massenmord betraf. Dr. Otto Zippel, der Verteidiger von Tesch, argumentierte indes mit der gleichsam unvermeidlichen kartellvertraglichen Zuständigkeit des Unternehmens für den Bereich östlich der Elbe. Die Zyklon-B-Lieferungen seien nicht so umfangreich gewesen, dass sie sich nicht durch Hygienemaßnahmen hätten erklären lassen. Die außerordentlich hohen Liefermengen nach Auschwitz hätten sich seinem Mandanten dadurch erklärt, dass dort ein Zwischenlager für das Produkt unterhalten worden sein könnte.

In späteren Verfahren und aus der historischen Forschung ist heute bekannt, dass nicht sämtliche Zyklon-B-Lieferungen der Dessauer Zuckerwerk nach Auschwitz über die Hamburger Firma abgewickelt wurden. Im ersten Curiohaus-Prozess konnte das Zeugnis des Buchhalters Sehm jedoch als hinreichender Beweis gewürdigt werden. Dass die Lieferanten eines hoch potenten Giftstoffs wirklich gar keine Ahnung von der Verwendung der Substanz gewonnen haben sollen, schien den britischen Richtern denn auch kaum glaubhaft, attestierten sie den Angeklagten, es handle sich bei ihnen doch um gebildete Leute.

Rechtsgrundlage der Verfahren gegen Kriegsverbrecher vor britischen Militärgerichten war überdies ein "Royal Warrant" vom 14. Juni 1945, der einerseits zwar nur Anklagen wegen Verbrechen gegen Angehörige der Vereinten Nationen vorsah, Taten unter Deutschen also nicht pönalisierte, andererseits aber eine gelockerte Beweispflicht vorsah, weil in derartigen Verfahren Beweisprobleme abzusehen waren. So genügte der Nachweis einer organisatorischen Mitverantwortung, ein Prinzip, das die deutsche Justiz erst in der jüngsten Vergangenheit für Verfahren gegen hoch betagte potenzielle NS-Täter wiederentdeckt hat.

Todesurteil gegen Tesch und Weinbacher

Firmeninhaber Dr. Tesch und sein Prokurist Weinbacher wurden am 16. Mai 1946 im Zuchthaus Hameln gehenkt. Hameln diente der britischen Militärjustiz als zentrale Hinrichtungsstätte, was noch zu einer rechtshistorischen Merkwürdigkeit führt – doch dazu zum Schluss.

Der zweite Curiohaus-Prozess begann am 18. März 1946 gegen Angehörige des Lagerpersonals des Konzentrationslagers Neuengamme bei Hamburg, es folgte bis 1949 eine Reihe weiterer Verfahren.

Nach dem Ende der britischen Militärjustiz wurde die bis dahin beweiserleichternde Vermutung organisatorischer Mitverantwortung, beispielsweise von Lagerpersonal oder Gift-Lieferanten, von der deutschen Justiz nicht übernommen. In der deutschen Öffentlichkeit wurden die Verfahren der alliierten Militärgerichte lange Zeit als "Siegerjustiz" verstanden. Vor der ungeheuren Brutalität der abgeurteilten Verbrechen – hier ein schwer fassbares Beispiel aus Hamburg – verschloss man weitgehend die Augen, gefangen in allgemeiner Weinerlichkeit nach dem verlorenen Krieg.

Gräberfeld als rechtshistorisches Kuriosum

Das Gräberfeld auf einem Friedhof in Hameln, auf dem die britischen Besatzungsbehörden die Leichen der im Zuchthaus daselbst unter ihrer Gerichtshoheit Gehenkten bestatten ließen, war bis in die 1980er Jahre eine "rechtsradikale Wallfahrtsstätte" gegen die britische "Siegerjustiz".

Dass die rund 200 "Hingerichtetengräber" über die 155 wegen Kriegsverbrechen verurteilten Deutschen hinaus allerdings noch weitere Leichname aufnahmen, dokumentiert eine rechtshistorische Denkwürdigkeit: Knapp ein Viertel der Gräber diente der Bestattung von "Displaced Persons", also von Menschen, die während des Kriegs vor allem aus Osteuropa nach Deutschland deportiert und von der britischen Militärjustiz wegen Verstößen gegen das Besatzungsrecht zum Tod verurteilt worden waren – an diese wirklich wilden Jahre der deutschen Rechts- und Migrationsgeschichte erinnert man sich heute kaum noch.

Der Hinrichtung der straffälligen "Displaced Persons" durch die britischen Behörden begegnete die deutsche Öffentlichkeit, im Gegensatz zum Schicksal der verurteilten deutschen Kriegsverbrecher, damals übrigens mit Wohlgefallen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Köln-Düsseldorf-Solingen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Kriegsverbrecherprozesse in Hamburg 1946: . In: Legal Tribune Online, 20.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18844 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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