Im März 1946 begann im Hamburger Curiohaus eine Reihe von Strafverfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Diese Prozesse der britischen Besatzungsmacht gelten als Beispiel für vergleichsweise faire Verfahren gegen NS-Täter.
Der lakonische Duktus der juristischen Sprache befremdet vielleicht, handelte es sich doch, wie wir heute wissen, um schwer fassbare Verbrechen, die seit März 1946 in den später so genannten Curiohaus-Prozessen verhandelt wurden. Im Ersten Verfahren wurde den drei Angeklagten vorgeworfen, ein Kriegsverbrechen begangen zu haben, weil sie "in Hamburg, Deutschland, zwischen dem 1. Januar 1941 und dem 31. März 1945 in Verletzung der Kriegsgesetze und Kriegsbräuche Giftgas geliefert haben, das zur Ermordung von alliierten Staatsangehörigen, die in Konzentrationslagern gefangen waren, benutzt wurde, wohlwissend, daß das besagte Gas zu diesem Zweck verwendet wurde".
Dr. Bruno Tesch (1890–1947), Karl Weinbacher (1898–1947) und Dr. Joachim Hans Drosihn, Inhaber, Prokurist und technischer Mitarbeiter der Firma Tesch & Stabenow, Hamburg, wurden zur Last gelegt, das unter dem Markennamen "Zyklon B" bekannte Schädlingsbekämpfungsmittel in die Vernichtungslager, die der deutsche Staat in Polen errichtet hatte, geliefert zu haben. Dies hätten sie in dem Wissen getan, dass es dort zum systematischen Mord verwendet wurde. Das Verfahren begann am 1. März 1946, es endete am 8. März mit einem Freispruch für den technischen Fachmann Dr. Drosihn, der Todesstrafe gegen Tesch und Weinbacher.
Gebietskartell gibt Hinweis auf Verantwortung
Mit dem Urteil wurde erstmals eine Beteiligung von Managern der deutschen Wirtschaft an Kriegsverbrechen thematisiert. Ihre Expertise im Giftgasgebrauch hatten die Angeklagten allerdings auf zivilem Gebiet entwickelt. Die Flagge der Firma Tesch & Stabenow war beispielsweise in den 1930er Jahren oft im Hamburger Hafen zu sehen und zeigte an, dass ihre Mitarbeiter mit der Entwesung von Schiffen beschäftigt waren, also der Tötung von Insekten und Kleintieren mittels Blausäuregas, die damals für die internationale Schifffahrt eingeführt worden war.
Das Geschäftsgebiet umfasste darüber hinaus die Entwesung von Lager- und Betriebsräumen der Lebensmittel- und Agrarwirtschaft, seit der Remilitarisierung Deutschlands in den 1930er Jahren kamen die Hygienebedürfnisse von Wehrmacht und SS-Truppen hinzu. Im Krieg mochte man schließlich Europa ausrauben, das Raubgut aber erst nach gründlicher Entwesung ins Reichsgebiet verbringen.
Im Hamburger Verfahren spielte die seit Kaisers Zeiten von Kartellen geprägte deutsche Wirtschaftsordnung eine Rolle. Hergestellt und in Blechdosen verpackt wurde das Gift in den Dessauer Zuckerwerken, die für die Firma Degesch, die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H. in Frankfurt am Main, arbeiteten. Für den Vertrieb - im Fall von Geschäften mit Giftgas war dies naturgemäß etwa mit sicherheitstechnischen Dienstleistungen verbunden - waren wiederum zwei Firmen zuständig, die ein Gebietskartell geschlossen hatten: Die Firma Heerdt-Lingler (Heli) übernahm den Raum westlich, die Tesch & Stabenow GmbH den Raum östlich der Elbe. Damit zählten die deutschen Streitkräfte nach dem Überfall auf Polen zu den Hauptkunden der Hamburger Firma. Dies sollte einen Gesichtspunkt in der Verteidigung ihres Inhabers bilden.
Buchhalter liefert Beweise für Kapitalverbrechen
Die vermutlich das Urteil tragende Zeugenaussage gab bereits am ersten Verhandlungstag Emil Sehm, ein gelernter Wirtschaftsprüfer, der 1942 und 1943 in der Buchhaltung von Tesch & Stabenow gearbeitet hatte. "Vermutlich", muss man einschränkend notieren, denn das britische Militärgericht hinterließ keine schriftliche Urteilsbegründung. Sehm hatte einen guten Überblick über die Mengen an Zyklon B, die – zu guten Teilen unverdächtig – etwa an die Wehrmacht geliefert wurden, die einigen Wert auf die Entwesung von Kasernen oder Lagerräumen legte. Sehm konnte seine ehemaligen Vorgesetzten aber auch schwer belasten, weil er Einblick in ihre Berichte über die Geschäftsreisen zu Kriegszeiten hatte. So gab Sehm den Inhalt eines Dokuments aus dem Jahr 1942 wieder:
"In diesem Bericht legte Tesch eine Unterredung mit führenden Leuten der Wehrmacht nieder, im Verlauf derer ihm gesagt wurde, daß die Bestattung nach dem Erschießen von einer zunehmenden Zahl von Juden, sich mehr und mehr als unhygienisch erwiesen hatte und daß die Absicht bestünde, sie mit Blausäure zu töten. Als Dr. Tesch nach seiner Meinung gefragt wurde, habe er die gleiche Methode vorgeschlagen wie bei der Vernichtung von Schädlingen, nämlich das Ausströmen von Blausäure in einem geschlossenen Raum."
2/2: Britisches Militärrecht zu Kriegsverbrechern
Es kamen weitere Zeugnisse hinzu, die ein Wissen oder wenigstens Wissenmüssen der Angeklagten nahelegten, was den Einsatz ihres bewährten Schädlingsbekämpfungsmittels zum systematischen Massenmord betraf. Dr. Otto Zippel, der Verteidiger von Tesch, argumentierte indes mit der gleichsam unvermeidlichen kartellvertraglichen Zuständigkeit des Unternehmens für den Bereich östlich der Elbe. Die Zyklon-B-Lieferungen seien nicht so umfangreich gewesen, dass sie sich nicht durch Hygienemaßnahmen hätten erklären lassen. Die außerordentlich hohen Liefermengen nach Auschwitz hätten sich seinem Mandanten dadurch erklärt, dass dort ein Zwischenlager für das Produkt unterhalten worden sein könnte.
In späteren Verfahren und aus der historischen Forschung ist heute bekannt, dass nicht sämtliche Zyklon-B-Lieferungen der Dessauer Zuckerwerk nach Auschwitz über die Hamburger Firma abgewickelt wurden. Im ersten Curiohaus-Prozess konnte das Zeugnis des Buchhalters Sehm jedoch als hinreichender Beweis gewürdigt werden. Dass die Lieferanten eines hoch potenten Giftstoffs wirklich gar keine Ahnung von der Verwendung der Substanz gewonnen haben sollen, schien den britischen Richtern denn auch kaum glaubhaft, attestierten sie den Angeklagten, es handle sich bei ihnen doch um gebildete Leute.
Rechtsgrundlage der Verfahren gegen Kriegsverbrecher vor britischen Militärgerichten war überdies ein "Royal Warrant" vom 14. Juni 1945, der einerseits zwar nur Anklagen wegen Verbrechen gegen Angehörige der Vereinten Nationen vorsah, Taten unter Deutschen also nicht pönalisierte, andererseits aber eine gelockerte Beweispflicht vorsah, weil in derartigen Verfahren Beweisprobleme abzusehen waren. So genügte der Nachweis einer organisatorischen Mitverantwortung, ein Prinzip, das die deutsche Justiz erst in der jüngsten Vergangenheit für Verfahren gegen hoch betagte potenzielle NS-Täter wiederentdeckt hat.
Todesurteil gegen Tesch und Weinbacher
Firmeninhaber Dr. Tesch und sein Prokurist Weinbacher wurden am 16. Mai 1946 im Zuchthaus Hameln gehenkt. Hameln diente der britischen Militärjustiz als zentrale Hinrichtungsstätte, was noch zu einer rechtshistorischen Merkwürdigkeit führt – doch dazu zum Schluss.
Der zweite Curiohaus-Prozess begann am 18. März 1946 gegen Angehörige des Lagerpersonals des Konzentrationslagers Neuengamme bei Hamburg, es folgte bis 1949 eine Reihe weiterer Verfahren.
Nach dem Ende der britischen Militärjustiz wurde die bis dahin beweiserleichternde Vermutung organisatorischer Mitverantwortung, beispielsweise von Lagerpersonal oder Gift-Lieferanten, von der deutschen Justiz nicht übernommen. In der deutschen Öffentlichkeit wurden die Verfahren der alliierten Militärgerichte lange Zeit als "Siegerjustiz" verstanden. Vor der ungeheuren Brutalität der abgeurteilten Verbrechen – hier ein schwer fassbares Beispiel aus Hamburg – verschloss man weitgehend die Augen, gefangen in allgemeiner Weinerlichkeit nach dem verlorenen Krieg.
Gräberfeld als rechtshistorisches Kuriosum
Das Gräberfeld auf einem Friedhof in Hameln, auf dem die britischen Besatzungsbehörden die Leichen der im Zuchthaus daselbst unter ihrer Gerichtshoheit Gehenkten bestatten ließen, war bis in die 1980er Jahre eine "rechtsradikale Wallfahrtsstätte" gegen die britische "Siegerjustiz".
Dass die rund 200 "Hingerichtetengräber" über die 155 wegen Kriegsverbrechen verurteilten Deutschen hinaus allerdings noch weitere Leichname aufnahmen, dokumentiert eine rechtshistorische Denkwürdigkeit: Knapp ein Viertel der Gräber diente der Bestattung von "Displaced Persons", also von Menschen, die während des Kriegs vor allem aus Osteuropa nach Deutschland deportiert und von der britischen Militärjustiz wegen Verstößen gegen das Besatzungsrecht zum Tod verurteilt worden waren – an diese wirklich wilden Jahre der deutschen Rechts- und Migrationsgeschichte erinnert man sich heute kaum noch.
Der Hinrichtung der straffälligen "Displaced Persons" durch die britischen Behörden begegnete die deutsche Öffentlichkeit, im Gegensatz zum Schicksal der verurteilten deutschen Kriegsverbrecher, damals übrigens mit Wohlgefallen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Köln-Düsseldorf-Solingen.
Martin Rath, Kriegsverbrecherprozesse in Hamburg 1946: Die Curiohaus-Verfahren . In: Legal Tribune Online, 20.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18844/ (abgerufen am: 19.07.2024 )
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