Der Mordprozess 1936 in Chur gegen David Frankfurter: "Die Bluttat von Davos"

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Felz

18.12.2021

Vor 85 Jahren verurteilte ein schweizerisches Gericht David Frankfurter wegen des Mordes an dem Nationalsozialisten Wilhelm Gustloff. Ein Prozess über einen politischen Mord, der selbst zum Politikum wurde, wie Sebastian Felz zeigt.

Am 4. Februar 1936 gegen 20 Uhr erschoss der jugoslawische Medizinstudent David Frankfurter den Landesgruppenleiter der NSDAP Auslandsorganisation (AO) in der Schweiz, Wilhelm Gustloff. Als Frankfurter im Arbeitszimmer Gustloffs wartete, habe er ein Telefongespräch Gustloffs mitgehört, wobei die Wörter "Schweinejuden", "Kommunisten" oder "Schweinekommunisten" gefallen seien sollen. Das Porträt Hitlers im Arbeitszimmer ("Meinem lieben Gustloff. Adolf Hitler") sowie der Ehrendolch hätten Frankfurters Zorn noch weiter angereizt.

Als Gustloff das Zimmer betrat, feuerte Frankfurter drei- bis viermal auf den NSDAP-Funktionär. Frankfurter flüchtete dann, irrte orientierungslos durch einen Park in Davos, unterließ den zunächst geplanten Selbstmordversuch und stellte sich schließlich der Polizei. Gustloff sei, so Frankfurter später im Verhör, von ihm als "Stellvertreter" des "Dritten Reiches" getötet worden, da andere hochrangige Politiker nicht erreichbar schienen.

In einem autobiographischen Text von 1945 gab Frankfurter an, dass ein Besuch Weihnachten 1934 in Berlin bei seinem Onkel, dem Rabbiner Salomon Frankfurter, tiefe Spuren hinterlassen habe. Er habe dort antisemitische Pöbeleien und Erniedrigungen erlebt, denen längst nicht mehr "nur" orthodoxe Juden im Alltag ausgesetzt waren. Sein Onkel sei auf offener Straße von einem jungen Schnösel am Bart gezerrt worden. Außerdem habe er Schmierereien an den Hauswänden wie "Die Juden sind unser Unglück" gelesen. "Gegen Gewalt gibt es nur – Gewalt", schrieb Frankfurter über diese Zeit in seinen Memoiren.

"Ein Märtyrer der Bewegung"

Das Attentat kam den Nationalsozialisten zeitlich zunächst ungelegen. Weil am 6. Februar 1936, zwei Tage nach der Tat, die olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen eröffnet wurden, und Hitler im März in das entmilitarisierte Rheinland einmarschieren wollte, blieben "Artikulationen" des "Volkszorns" aus und wurden von Innenminister Wilhelm Frick in einer Anordnung verboten: Es bleibe nach wie vor dem "Führer" allein überlassen, welche Politik von Fall zu Fall einzuschlagen sei.

In einer pompösen Propagandaaktion wurde der Leichnam Gustloffs mit einem Sonderzug nach Schwerin überführt, wo am 12. Februar die Beerdigung mit 35.000 Teilnehmern stattfand. Nach Horst Wessel, so Hitler in seiner Totenrede, habe der Nationalsozialismus nun im Ausland seinen ersten "Blutzeugen" bekommen: "Einen Mann", so Hitler, "der nichts tat, als nur für Deutschland einzutreten, was nicht nur sein heiliges Recht ist, sondern seine Pflicht auf dieser Welt, der nichts getan hat, als sich seiner Heimat zu erinnern und sich in Treue ihr zu verschreiben". Bei diesem Mord sei nun der "Träger dieser Taten zum ersten Mal selbst in Erscheinung getreten". Kein "harmlose[r] deutsche[r] Volksgenosse", kein Schweizer und auch kein Auslandsdeutscher habe sich dafür "dingen" lassen: "Wir begreifen die Kampfansage, und wir nehmen sie auf!"

"Jüdisch-bolschewistische Verschwörung"

Die deutsche Seite hatte schon im Frühjahr 1936 die politische Dimension des Prozesses erkannt. Unter Leitung des Propagandaministeriums sollte die Gerichtsverhandlung für antisemitische Propaganda instrumentalisiert werden. Die Verschwörungstheoretiker des Goebbels-Ministeriums begannen, Frankfurter als einen Agenten eines jüdischen oder kommunistischen Mordkomplottes darzustellen.

Wolfgang Diewerge war dafür Goebbels Mann. Bereits am 18. Februar 1936 verlangte er vom Auswärtigen Amt Material zu dem Attentat und der Situation der NS-Landesgruppe in der Schweiz, um eine Broschüre zum Thema zu erstellen. Die Broschüre erschien im April 1936 im Hausverlag der NSDAP unter dem Titel "Der Fall Gustloff: Vorgeschichte und Hintergründe der Bluttat von Davos". Sie hatte zum Ziel, die Schuld am Attentat einerseits der Schweizer Politik und der kritischen Berichterstattung der Schweizer Presse, andererseits einer "jüdisch-bolschewistischen Verschwörung" in die Schuhe zu schieben, deren Agent Frankfurter angeblich gewesen sei.

Auch die Teilnahme des deutschen antisemitischen Rechtsanwalts Friedrich Grimm als Nebenklägervertreter der Witwe Gustloffs diente dazu, den Prozess vor den Kantonsgericht Chur zu politisieren. Um die Zulassung Grimms zu erreichen, intervenierte sogar der deutsche Botschafter Ernst von Weizsäcker bei Außenminister Giuseppe Motta.

Kein politischer Mord? – Kein politischer Prozess?

Am 9. Dezember 1936 begann der Prozess gegen Frankfurter. 250 Zuschauer fanden im Versammlungssaal des "Großen Rates" Platz. 150 Journalisten aus aller Welt waren angereist, darunter 24 Berichterstatter aus dem deutschen Reich.

Der Prozess dauerte vier Verhandlungstage, und zwar vom 9. bis zum 14. Dezember 1936. Frankfurter war wegen Mordes angeklagt. Am Nachmittag des ersten Verhandlungstages verlas Ankläger Friedrich Brügger fast drei Stunden lang die Anklage. Brügger war sich sicher, dass Frankfurter nicht durch die Situation der jüdischen Bevölkerung im "Dritten Reich" zur Tat bewegt worden sei. Diese These sei nur eine nachträgliche Legitimation seiner Tötungshandlung.

Brügger führte aus: "Das ist nichts als eine Konstruktion. Das Schicksal der Juden in Deutschland hat ihn nicht mehr berührt als andere intellektuelle Stammesgenossen. Er wusste darüber nicht mehr, als er in schweizerischen bürgerlichen Zeitschriften las. Selbst die Judengesetzgebung war ihm nur spärlich bekannt". Des Weiteren war der Amtskläger überzeugt, dass es keine Hinweise auf eine Verschwörung, auf Hintermänner oder einen Komplott gäbe. Frankfurter sei ein Einzeltäter. Es läge ganz klar ein Mord im Sinne des bündnerischen Strafrechts vor, ein politischer Mord, der ggf. als mildernder Umstand anzuführen wäre, war nach Brügger nicht gegeben.

Verteidiger zitierte aus "Mein Kampf" und weiteren NS-Hetzschriften

In seiner Verteidigungsrede, die anderthalb Verhandlungstage in Anspruch nahm, schilderte Frankfurters Verteidiger Eugen Curti die Aktivitäten von Gustloff, der AO und der NSDAP in der Schweiz sowie die Situation im "Dritten Reich". Zitate aus der sorgfältig zusammengestellten "Dokumentensammlung über die Entrechtung, Ächtung und Vernichtung der Juden unter der Regierung Hitlers" führten dazu, dass die Delegierten der deutschen Gesandtschaft den Saal verließen.

Curti zitierte aus "Mein Kampf" und dem Parteiprogramm der NSDAP. Er stellte die antisemitische Gesetzgebung der Berliner Machthaber dar und beschrieb die Situation der jüdischen Deutschen unter dem Hakenkreuz; er zitierte Passagen aus der antisemitischen Wochenzeitschrift "Der Stürmer" und zeigte Karikaturen aus dem Hetzblatt; er las aus Romanen der Exilliteratur vor, welche die Folter und Qualen in den Konzentrationslagern schilderten.

Die stundenlangen Verlesungen machten es allerdings den Zuhörern schwer, Curti zu folgen. Den Vorsitzenden Richter Ganzoni ärgerten die politischen Ausführungen, da eine neutrale und unpolitische Gerichtsverhandlung von Seiten der schweizerischen Politik und Justiz geplant war.

"Politischer Mord ist Mord"

Nachdem der schweizerische Anwalt der Witwe Gustloffs, Werner Ursprung, die Ansprüche der Zivilpartei in Höhe von fast 100.000 Franken geltend gemacht hatte, sprach 35 Minuten lang Friedrich Grimm. Der deutsche Anwalt war in den 1920er-Jahren als Verteidiger der so genannten Fememörder der "Schwarzen Reichswehr" bekannt geworden. Er hatte deren Fememorde, also Morde durch Rechtsextreme an vermeintlichen "Verrätern", in den eigenen Reihen als Staatsnothilfe zu rechtfertigen gesucht.

Sein Plädoyer für den Prozess in Chur hatte er zuvor Hitler persönlich vorgetragen. Die Verteidigung, so Grimm, habe den Prozess missbraucht, um ihn zu politisieren. Nun tat Grimm das Gleiche. Die Emigrantenliteratur über Konzentrationslager und Verfolgung im "Dritten Reich" sei auf so niedrigem Niveau, "dass es uns nicht an die Schuhsohlen heranreicht". "Frankfurter sei ein verbummelter Student, der überall Schulden habe, ein Lügner und kaltblütiger Mörder.

"Wie anders Gustloff! Eine makellose Persönlichkeit. Er lebt für eine Idee, für den Führer, für Deutschland. Die Judenfrage, so Grimm, "und ihre Behandlung in Deutschland ist ein historischer Vorgang von säkularer Bedeutung". Sie sei "ein ernstes Problem […], vielleicht das ernsteste überhaupt […]". Politischer Mord, so Grimm, sei Mord.

Gericht: Deutsche Politik ist "peinlich berührend"

David Frankfurter wurde zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt und erst 1945 begnadigt. Acht Monate Untersuchungshaft wurden abgezogen. Dazu kamen eine anschließende lebenslange Landesverweisung und die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. Die schweizerischen Richter glaubten Frankfurter nicht, dass er aufgrund der Judenpolitik des "Dritten Reiches" gemordet habe, auch wenn sie die Zustände im "Dritten Reich" scharf kritisierten.

Das Gericht bezog sich auf den Hohen Kommissar für jüdische und andere Flüchtlinge, James Grover Mcdonalds, der die Verfolgung und Vertreibung von Jüdinnen und Juden 1935 in Deutschland angeprangert hatte. Die Politik des "Dritten Reiches" nannte das Gericht "peinlich" berührend sowie dem Schweizer "wesensfremd" und "unverständlich".

1945 erfolgte dann die Haftentlassung Frankfurters durch Gnadenerweis, Frankfurter reiste nach Israel aus, wo er im Staatsdienst arbeitete und 1982 starb. Seine Landesverweisung wurde 1969 aufgehoben. Nach der Tat wurde Frankfurter als der neue "Wilhelm Tell" oder in der NS-Propaganda als Prototyp eines "feigen und hinterlistigen Juden" dargestellt.

Das Attentat wird heute als vergessener Akt jüdischen Widerstandes charakterisiert oder als sinnloser Anschlag eingestuft, der niemals zum regime change hätte führen können. Zwischen diesen historischen sowie zeitgenössischen Bewertungen changieren die Beurteilungen der Tat Frankfurters. Durfte David Frankfurter Wilhelm Gustloff töten? Nein, antwortete ein rechtsstaatliches Gericht in Chur. Frankfurter verbüßte deshalb neun Jahre Haft. Vielleicht kann David Frankfurter auch aus folgender Perspektive gesehen werden: Anklage, Verurteilung und Haftverbüßung unterscheidet den "Mörder" David Frankfurter von den vielen Tätern des Holocausts, die oft für Morde in unvorstellbaren Dimensionen unbehelligt blieben.

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn), Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte und dankt John Philipp Thurn für seine Hinweise.

Film: 

Konfrontation, Regie: Rolf Lyssy (Schweiz 1974), 114 Min., sw, 35 mm, D+Dial. 

Literatur:  

Sabine Bossert, David Frankfurter (1909-1982). Das Selbstbild des Gustloff-Attentäters, Wien/Köln/Weimar 2019. 

Sebastian Felz, "Der Prozess gegen David Frankfurter, Schweiz 1936", in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse‎, letzter Zugriff am 10.12.2021. 

Zitiervorschlag

Der Mordprozess 1936 in Chur gegen David Frankfurter: . In: Legal Tribune Online, 18.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46975 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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