Zur Rechtskultur der Privilegien: Oster­feuer oder ille­gale Abfall­be­sei­ti­gung?

von Martin Rath

09.04.2023

In älteren Rechtsordnungen war die Verleihung von Privilegien ein weit verbreiteter Vorgang, um von Erstarrung bedrohte Verhältnisse in Gang zu halten. Heute ist der Vorwurf, privilegiert zu sein, recht beliebt. Wo liegt der Zusammenhang? 

Wer glaubte, in der Gartenpflege von einem Privileg profitieren zu können, das sich lange aus der christlichen Festkultur zur Osterzeit ergeben hatte, wurde am 7. April 2004 vom Oberverwaltungsgericht (OVG) für das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) eines Besseren belehrt.

Ein Landwirt aus Westfalen hatte von seiner Gemeindeverwaltung zum wiederholten Mal begehrt, ihm das Abbrennen eines Osterfeuers zu genehmigen. Er hatte dazu den Herbst- und Frühjahrsabschnitt von Bäumen und Büschen seines Hofes gesammelt, darunter jene einer rund 300 Meter langen Hecke. Sie zu verbrennen, versprach, ein weithin sicht- und riechbares Zeugnis christlichen Glaubens zu werden – oder sollte das doch nur Abfallbeseitigung sein?

Das OVG NRW war der Auffassung, dass die Absichten des Bauern eher auf eine abfallrechtlich unzulässige Entsorgung der Pflanzenabfälle gerichtet waren. Dazu erklärte das Gericht: "Ein starkes Indiz dafür, dass mit dem Feuer ein derartiger spezifischer Zweck der Brauchtumspflege verbunden ist, wird sich unter den heutigen Gegebenheiten vor allem daraus ergeben, dass das Feuer von in der Ortsgemeinschaft verankerten Glaubensgemeinschaften, Organisationen oder Vereinen ausgerichtet wird und im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung für jedermann zugänglich ist. Zum einen stellt das Gemeinschaftserlebnis den besonderen Sinnbezug des Osterfeuers her oder fördert ihn zumindest. Zum anderen drängt sich in diesen Fällen nicht die ansonsten nahe liegende Sorge auf, dass lediglich Pflanzenabfälle unter dem Vorwand eines 'Osterfeuers' illegal beseitigt werden sollen" (OVG NRW, Beschl. v. 07.04.2004, Az. 21 B 727/04).

Bescheidene Reste einer älteren Rechtskultur

Die ländlichen Gemeinden Nordrhein-Westfalens machen bis heute in der Osterzeit gern darauf aufmerksam, dass es ein "Privileg" sei, nach behördlicher Genehmigung ein solches Feuer zu veranstalten.

Mit der historisch reichen Rechtskultur der Privilegien hat die Ausnahme vom allgemeinen Verbot, Gartenabfälle durch offenes Feuer zu beseitigen, aber nur noch wenig zu tun.
Ein Hinweis darauf, worum es sich bei Privilegien hergebracht handelte, lässt sich beispielsweise einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 21. Januar 1921 entnehmen (Az. V 228/21).

Dieses Urteil fällt in eine Zeit, in der die Landwirtschaft noch auf der Kraft von Pferden beruhte und – angesichts starken Nahrungsmangels – das Fleisch auch hinfälliger Tiere so wertvoll geworden war, dass es staatlicher Zwangsbewirtschaftung unterworfen wurde.

So hatte die Stadt Stargard auf der Grundlage der "Verordnung über Pferdefleisch und Ersatzwurst" vom 22. Mai 1919 angeordnet, dass nicht mehr arbeitsfähige, zur Schlachtung vorgesehene Tiere dem kommunalen Zweckverband zur weiteren Verwertung abzuliefern seien.

Durch diese Ablieferungspflicht sah sich der für Stargard und umliegende Gemeinden zuständige Abdecker wirtschaftlich geschädigt. Abdecker waren für die Beseitigung toter Tiere in Städten und Ortschaften verantwortlich. Der Abdecker verlangte Auskunft über die verwerteten Pferde. Grundlage für seinen Anspruch gab das am 18. September 1789 landesherrlich erteilte Abdeckereiprivileg für Stargard und andere pommersche Ortschaften.

Das Gericht stellte hier einerseits fest, dass der in Kriegszeiten auf dem Gebiet von Ernährungsfragen sehr aktive Gesetzgeber die alten Abdeckereiprivilegien nicht beseitigt hatte. Andererseits konnte ein Abdecker seine Ansprüche auf Ablieferung hinfälliger Pferde nur so weit verfolgen, als diese für die menschliche Ernährung ganz ungeeignet waren, sich ihr wirtschaftlicher Wert also nur noch auf ihre Häute oder Knochen, etwa zum Kochen von Leim, beschränkte.

Privilegien für Abdecker, Henker und Apotheker

Das geografische Monopol, die nicht zum menschlichen Verzehr geeigneten Tiere zu verwerten, verliehen die fürstlichen Landesherren nicht, jedenfalls nicht ausschließlich, aus Gründen der Hygiene.

Oftmals verbunden war das Abdeckereiprivileg mit einem anderen regionalen Monopol, dem Scharfrichterprivileg. Ein solches Privileg konnte beispielsweise im Detail festlegen, wie sorgfältig sein Inhaber die Hinrichtung durch Schwert, Galgen oder das Rädern auszuführen hatte. Der Beleihungsakt sollte also sachkundigen Justizvollzug sichern, schloss daher den Wettbewerb um die Tätigkeit als Henker aus.

Weil das Handwerk des Scharfrichters allein zur wirtschaftlichen Existenz nicht ausreichte, wurde das entsprechende Privileg oft ergänzt um die Rechte des Abdeckers.

Mitunter aus dem sozialen Umfeld der oft über Generationen vererbten bzw. vom Landesherrn erneuerten Scharfrichterprivilegien konnten sich – in einer Zeit, als Medizin noch mehr denn heute magisch verstanden wurde – auch Karrieren als Apotheker entwickeln.

Um den Wildwuchs unter Frisören, Hebammen und Henkern im Arzneimittelverkauf zu regulieren, verliehen die Landesherren des 17. und 18. Jahrhunderts Apothekenprivilegien, teils persönlicher Natur, teils gebunden an das Eigentum an ein Grundstück. Der Bundesfinanzhof (BFH) hatte noch 1956 zur steuerrechtlichen Einordnung eines solchen Vorrechts zu entscheiden (Urt. v. 16.11.1956, Az. III 280/56 U).

Bis zum berühmten Apotheken-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 1958 (Az. 1 BvR 596/56) blieben diese über die Zeit geretteten Reste des sogenannten Feudalzeitalters präsent. 

Buntscheckige Welt der alten Privilegien

In der nicht zuletzt an Gleichheitsgrundsätzen ausgelegten Welt der Gegenwart wirken Privilegien schnell anachronistisch. Warum das so ist, lässt sich abstrakt vielleicht so beschreiben: Als selbstverständlich kann heute nur noch der allgemeine Rechtssatz gelten. Eine Ausnahme von ihm, vor allem dann, wenn sie wirtschaftlich wertvoll erscheint, ist gut zu begründen, im Zweifel noch besser als der Rechtssatz selbst.

Das ist jedoch eine Auffassung, die sich erst in den vergangenen rund 200 Jahren, mit dem liberalen Rechtsstaat durchsetzte. Weder handelt es sich weltweit um einen stets anerkannten Standard, dort spricht man dann von Korruption. Noch bildete sie historisch die Regel.

In seiner Schrift "Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument" zeichnet der Tübinger Pädagogikprofessor Markus Rieger-Ladich (1967–) auch die Rechtsgeschichte des Privilegs nach. Er stützt sich dabei auf die Arbeiten des Juristen Heinz Mohnhaupt (1935–) und der Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger (1955–), was sein kleines Werk zu einem zunächst recht interessanten Versuch macht, eine Brücke zwischen der Rechts- und Geschichtswissenschaft einerseits und den oft pädagogisch anmutenden politischen Kontroversen der Gegenwart andererseits zu schlagen.

Die vormoderne öffentliche Ordnung sei im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, der alten Heimat der Privilegien, "noch untrennbar verflochten mit sozialen und religiösen Strukturen" gewesen. "Seine Verfassung war kein geschlossenes systematisches Ganzes, sondern ein kompliziertes Geflecht von Altem und Neuem, von symbolisch-rituellen Praktiken, formellen und informellen Spielregeln, fallweise ausgehandelten Übereinkünften, von einigen schriftlich fixierten 'Grundgesetzen' (leges fundamentales) und vielen traditional legitimierten, konkurrierenden Rechtsansprüchen" (Stollberg-Rilinger zitiert nach Rieger-Ladich).

Bis diese buntscheckigen Feudalbande im 19. Jahrhundert unbarmherzig zerrissen wurden, diente das Privileg als nachgerade unverzichtbares Instrument, um sozial relevante Interessen überhaupt in eine rechtliche Form zu bringen: Wo etwa eine zentrale Behörde fehlte, die einer technischen Erfindung in großen wirtschaftsgeografischen Räumen durch Patent das vorläufige Recht zur ausschließlichen Nutzung zuordnen konnte, leistete diesen Schutz immerhin das Privileg des regionalen Fürsten. Erlaubte die Zunftordnung die Herstellung gewisser Waren nicht oder diskriminierte sie grundsätzlich Angehörige der falschen Konfession, mochte ein Privileg dem begabten Kalvinisten oder Juden Abhilfe schaffen.

Die unweigerlich dabei entstehenden Ungereimtheiten – Rechtsgleichheit ließ sich ja durchaus bereits in mathematisch-philosophischer Konsequenz ausdenken, war aber noch nicht anerkannt bzw. konnte nur als Fantasterei gelten – wurden dann als Ausdruck einer nur in Gott zur Einheit findenden Komplexität gedacht.

Addendum zum heutigen Streit um "Privilegien"

Schon wegen der schönen, rechtshistorisch und soziologisch aufgeklärten, didaktisch kurzen Einführung in eine ältere Welt juristischen Denkens lässt sich das kleine Buch von Rieger-Ladich auch interessierten Juristen empfehlen – zumal diese Sorte wissenschaftlicher, auch ums Recht bemühter Prosa heute leider ohnehin selten geworden ist.

Es wird für den juristischen Leser aber eine vielleicht sehr irritierende Erfahrung hinzukommen. Denn Rieger-Ladich zeichnet in rascher Folge die politischen und akademischen Bewegungen nach, die zum heutigen, vielfach gebräuchlichen (Selbst-) Vorwurf führen, dieser oder jener Mensch sei "privilegiert", etwa in Gestalt des obskuren "weißen alten Mannes".

In diesem Wimmelbild begegnet man Hinweisen, die immer noch nicht Allgemeingut sein dürften. Hierzu zählt, dass sich beispielsweise die Kampagne zur Einführung des Frauenwahlrechts in den USA vor 100 Jahren nicht nahtlos als Geschichte vom Kampf des Guten gegen das Böse erzählen lässt. Rebecca Ann Latimer Felton (1835–1930), die im Jahr 1922 als erste Frau dem US-Senat angehörte, sah darin zum Beispiel eine Chance, durch die politische Beteiligung "weißer" Frauen die staatsbürgerliche Emanzipation der "schwarzen" Amerikaner insgesamt einzudämmen.

Ob sich aus solchen Beobachtungen – zirka zehn Runden akademischen Stille-Post-Betriebs weiter – ernsthaft eine politische Philosophie ableiten lässt, die behauptet, es besäßen "weiße" Menschen einen "unsichtbaren Rucksack", in dem sie – unbewusst – jene "Werkzeuge" mit sich trügen, die sie im sozialen Leben privilegierten, lohnt sich vielleicht gerade für den juristisch vorgebildeten Leser einmal zu prüfen.

Ob dabei abrechenbare Stunden herauskommen, lässt sich bezweifeln.

Denn wenn heute einer dem anderen auf einer solchen Grundlage vorwirft, er sei privilegiert, ist möglicherweise noch nicht einmal das Niveau eines Realitätsprinzips erreicht, das sich schon Jura-Erstsemester aneignen. Wo findet sich etwa jemals eine belastbare Antwort auf die Frage, wer mit der Behauptung, ein anderer sei "unbewusst" oder sogar "unsichtbar" privilegiert, von wem was woraus überhaupt verlangen kann?

Fast lässt sich glauben, dass die Stadt Stargard in Pommern 1921 weiter war: Sie wollte aus alten Pferden nicht nur Wurst, sondern auch Leim kochen dürfen. Und der Abdecker wusste damals, welches Privileg er von seinem Anwalt verteidigen lassen konnte.

Hinweis: Markus Rieger-Ladich: "Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument". Ditzingen (Reclam) 2022, 192 Seiten, 16 Euro.

Zitiervorschlag

Zur Rechtskultur der Privilegien: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51507 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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