2/2: Bibelkunde als Herrschafts- und Justizkritik
Im Gegensatz zu solchen Allgemeinplätzen können Bibelkenntnisse Freiheit und Leben retten, sollten sie denn vor Gericht Gehör finden. Beispielsweise verpflichtete das Verwaltungsgericht Würzburg mit Urteil vom 13. Juni 2012 (Az. W 6 K 11.30275) das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, einem iranischen Asylbewerber die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Mann hatte behauptet, von seinem Schwager im Iran bei der schiitischen Religionspolizei wegen Bibelbesitzes und Interesse am christlichen Glauben angezeigt worden zu sein. Die deutsche Behörde glaubte das nicht. In Bayern erhielt der Iraner Bibelunterricht bei einer evangelischen Freikirche und ließ sich taufen. Weil Menschen, die vom Islam zum Christentum wechseln, im Iran nachweislich von Folter, Haft- und Todesstrafe bedroht sind, gab dies endlich einen Asylgrund. Die Würzburger Verwaltungsrichter ließen sich nicht zuletzt dadurch überzeugen, dass der iranische Flüchtling nicht nur Bibelworte zitierte, sondern sich erkennbar auch moralisch mit ihnen auseinandergesetzt hatte – darunter der justizkritische Satz zur Steinigung im Johannesevangelium 8, 7.
Mit einer biblisch begründeten Ablehnung harmloser einheimischer Justizgebräuche taten sich deutsche Gerichte nicht immer leicht. Ein bisschen komisch wirkt heute ein Satz des Oberlandesgerichts Düsseldorf, das mit Beschluss vom 22. Juli 1966 (Az. 1 Ws 407/66) erklärte: "Würde die Leistung des Eides von der Gewissensentscheidung jedes Einzelnen abhängig gemacht, so würde einer geordneten Rechtsprechung der Boden entzogen." Der Zeuge, ein Pfarrer, hatte sich geweigert auf die Bibel, Matthäus 5, 34 , einen Eid zu schwören. Die Düsseldorfer Richter sahen die in Artikel 4 Grundgesetz (GG) verankerte Gewissensfreiheit noch in die gleichen Schranken gesetzt, wie das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, Artikel 2 GG.
Juristen erkennen hier den Fortschritt vor allem darin, dass auch die ordentlichen Gerichte heute mit einer etwas feinsinnigeren Grundrechtsdogmatik arbeiten – so Gott vor Ort will. Darin liegt auch eine etwas paradoxe Dynamik des Beweisrechts: Als Jesus zur Eidverweigerung aufforderte, war dies eine theologisch und juristisch interessante Angelegenheit. Wer schwor, der erklärte, Gott möge ihn verfluchen, sollte sein Wort nicht der Wahrheit entsprechen. Zwar kam widrigenfalls wohl kein Blitz vom Himmel, aber soziale Ausgrenzung war dem Meineidigen sicher. Auf letztere wollte das Oberlandesgericht Düsseldorf 1966 so wenig verzichten wie es heute noch junge Menschen tun, die jede dritte Tatsachenbehauptung mit einem "Ischschwör" bekräftigen.
Bibelstudium (k)eine Art Berufsausbildung
Damit junge Menschen eine Chance haben, ihr theologisches Wissen zu erweitern und sich etwas differenzierter auszudrücken als "ischschwör, ischwardasnicht", erkennt die deutsche Rechtsordnung das Bibelstudium in erstaunlich großzügiger Weise als eine Art berufsbildender Tätigkeit an.
Beispielsweise urteilte das Oberverwaltungsgericht Münster (v. 29.10.1984, Az. 16 A 3052/83) einst, dass eine dreijährige Ausbildung an einer Bibelschule dem Bafög-Anspruch nicht entgegenstehe, wenn danach ein Psychologiestudium absolviert werde. In jüngerer Vergangenheit kam das Landgericht Köln zu dem Befund, dass ein ebenfalls dreijähriges Bibelstudium, das einem Mathematik- und Physikstudium vorgelagert war, nicht zum Wegfall des elterlichen Pflichthaftpflicht-Versicherungsschutzes führe (Urt. v. 07.10.2009, Az. 20 O 228/09).
An solchen Bibelschulen wird übrigens neben der heiligen Schrift beispielsweise auch Outdoor-Mission und Suchtkrankentherapie – ein wichtiges Rekrutierungsumfeld der Freikirchen – gelehrt, was über Ambrose Bierce hinaus die Überlegenheit der christlichen Lehre belegt: Die oft eher griesgrämig dreinblickenden Muslime, die ab und zu in der Fußgängerzone den Koran feilbieten, haben ganz bestimmt nie einen Kurs in Outdoor-Mission(ierung) belegt.
Letzte Bibelworte
Wie wertvoll Bibelkenntnisse sind, können zum Schluss zwei Politiker zeigen, die sich nicht zuletzt als Rechtsanwälte einen Namen gemacht haben. Peter Gauweiler zog im Jahr 2004 aus dem Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen, Matthäus 25, 1-13, u.a. den Schluss, dass niemand seine Substanz verlieren dürfe, "wenn er (sie) auch in Zukunft wirkungsvoll sein will". Gauweilers bis heute zu beobachtender Wunsch, den biografisch wie politisch richtigen Zeitpunkt einer Entscheidung zu finden, mag mit dieser etwas apokalyptischen Bibelstelle in Beziehung stehen.
Besonders beeindruckend bleibt die Konsequenz bei Otto Schily. In seinem Amt als Bundesinnenminister warf er noch gelegentlich mit Akten nach seinen Untergebenen. Eingedenk der Weisheit Salomos: "Wer weise ist, hört darauf und vermehrt seine Kenntnisse, und wer verständig ist, eignet sich Fertigkeiten an" (Salomo 1, 5), lernte der als cholerisch verrufene Jurist dazu und warf, soweit bekannt, später nie wieder mit Akten in Richtung seiner Bediensteten. Letzteres könnte natürlich, abgesehen von der Weisheit der Bibel, auch darauf zurückgehen, dass er später keine Gelegenheit mehr bekam.
Hinweis: In einer "Politikerbibel" unter dem Titel "Suchet der Stadt Bestes", herausgegeben von Karl Jüsten und Stephan Reimers, gaben diverse Politiker Auskunft zu ihrer Auffassung nach wichtigen Sätzen der heiligen Schrift.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Bibelstunde: . In: Legal Tribune Online, 05.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15146 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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