Recht und Magie: Das gefähr­liche Voodoo-Urteil des OLG Mün­chen

von Martin Rath

10.01.2016

2/2: Rückblende: Berlin vor 100 Jahren

Wie sich das Verhältnis der Justiz zur "Kurpfuscherei" verändert hat, mag ein Rückblick zeigen. Im Jahr 1913 folgte die diabeteskranke Berliner Schauspielerin Nuscha Butze (geb. 1860) dem Rat einer freischaffenden Heilkundigen, die ihr nahezu alle ärztlichen Diätvorschriften ausredete und stattdessen mit ihr und für sie betete. Hofschauspielerin Butze überlebte das Jahr 1913 nicht. Im Folgejahr wandte sich die Hofschauspielerin Alice von Arnauld (geb. 1875) wegen einer chronischen Hautkrankheit zunächst an die gleiche, in der "Christlichen Wissenschaft" praktizierende Elise Ahrens, die sie später an ihre Kollegin Elise Hüsgen weiterreichte. Auch Arnauld starb 1914 an den Folgen ihrer schweren, unbehandelten Wunden.

Im Jahr 1916 blickte der Gießener Strafrechtslehrer Wolfgang Mittermaier (1867-1956), ein recht aufgeschlossener und ziviler Vertreter dieser Disziplin, auf die juristische Nachbereitung dieser esoterischen Heilbeterei zurück. Ende 1915 hatte das Landgericht Berlin III die beiden Heilerinnen zu jeweils sechs Monaten Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Eine Fallgestaltung, in der ein studierter Mediziner eine - vorsichtig formuliert - wissenschaftlich fragwürdige Behandlungskonzeption feilbietet, hätte sich Mittermaier vor 100 Jahren kaum vorstellen können  – eine Verbindung zwischen Füßen und Zähnen, wie sie im Münchener Fall von 2012 thematisiert wurde, wird von heutigen Heilkundigen mit den "Medianen" der teils nur angeblich traditionellen chinesischen Medizin begründet, wenn denn überhaupt der Versuch gemacht wird, die "Störfelder" parawissenschaftlich zu erklären. Denn zum Berliner Prozess schrieb der Gießener Strafrechtsprofessor 1916: Er habe den Eindruck, dass der sozialen Gefahr der Gesundbeterei "Abbruch getan und vielen die Augen über die unbegreifliche Dummheit weiter Kreise geöffnet" worden seien.

Heute: Freiheit zur Wahl unvernünftiger Methoden

Zur Anerkennung außenseitermedizinischer Methoden seitens der Justiz schrieb Mittermaier: "Ein Richter, der die allgemeine wissenschaftliche Grundlage unserer Medizin nicht anerkennt, der das Gesundbeten für das Richtige erklären wollte, ist für mich undenkbar. Wir wissen wohl, dass oft die wissenschaftliche Medizin versagt, während der Laie zufällig das Richtige findet. Aber trotz dieser menschlichen Schwäche unserer Wissenschaften müssen sie die feste Grundlage unseres Handelns bleiben. In ihnen ist die allgemeine Erfahrung immer noch am sichersten festgelegt."

Das Recht zieht die Grenzen der "Kurierfreiheit" heute bekanntlich weiter als es sich Mittermaier vorstellen mochte. Methoden, die man damals wegen "Kurpfuscherei" verworfen hätte, begründen heute abrechnungsfähige Leistungen, das Geschäft der Heilpraktiker ist gesetzlich anerkannt und wächst gedeihlich.

Voodoo-Vergleich im Münchener Urteil

Das Münchener Urteil zum Schadensersatzanspruch der Patientin, die wegen ihres Fußleidens zum alternativmedizinischen Zahnarzt marschiert war, enthält ein Problem, das einerseits auf der heute so weit verbreiteten Ablehnung der wissenschaftlichen Medizin beruht, andererseits auf dem Wunsch, dass die esoterischen Heilkundler – oder jedenfalls die Justiz – sich trotzdem deren wissenschaftliche Methoden ausborgen sollten: Die Klägerin mahnte beim OLG München an, dass für die Beurteilung des esoterischen Versuchs, ihre Füße vermittels Behandlung ihrer Zähne zu heilen, ein "Gutachter mit Spezialkenntnissen auf dem Gebiet der Außenseitermedizin" hätte bestellt werden müssen.

Statt einfach nur mit Mittermaier (1916) darauf hinzuweisen, dass trotz der "menschlichen Schwäche unserer Wissenschaften" in diesen "die allgemeine Erfahrung immer noch am sichersten festgelegt" sei, meinte das OLG München (2012), das Problem fehlender wissenschaftlicher Standards auf dem Gebiet einer unwissenschaftlichen Heilkunde noch an "einem plastischen Beispiel" zeigen zu müssen:
"Wendet ein Heilpraktiker Voodoo-Praktiken an, so kann kein Gericht durch Einschaltung eines Sachverständigen klären, ob nach den Überlieferungen des Voodoo-Kultes diese Praktiken geboten waren oder nicht, da es den einen Voodoo-Kult nicht gibt. Gleiches gilt für den sicher überschaubareren Bereich der Anhänger der Lehre von der Störfeldsanierung."

Voodoo gibt es nicht? Gefährliches Argument!

Die Behauptung, dass es keinen Voodoo-Kult gebe, mochte die Hoffnung der Münchener Richter ausdrücken, in künftigen Heilpraktikerverfahren mit Anträgen auf Anhörung von Voodoo-Gutachtern verschont zu bleiben. Das ist menschlich verständlich, aber in der Sache falsch, wenn nicht gar gefährlich.

Nehmen wir, erstens, an, dass die bayerischen Richter mit dieser barschen Tatsachenbehauptung zur Nichtexistenz von Voodoo recht hätten. Bekannt ist, dass man in esoterischen Kreisen zu logischen Fehlschlüssen neigt. Wenn jetzt jemand "beweisen" könnte, dass es Voodoo-Kulte gibt, hätte sich das OLG München nicht darauf selbst verpflichtet, den "Anhängern der Lehre von der Störfeldsanierung", wenn nicht überhaupt jeder noch so esoterisch-kleinen Glaubensgruppe großzügig Gehör zu schenken? Allein mit dem Gestus des "Beweisens" wird in dieser Branche viel Gutgläubigkeit generiert.

Zweitens: der Beweis ist wirklich leicht geführt. Selbstverständlich finden sich Voodoo-Kulte nicht nur im Horrorfilm, sie existieren als sogar staatlich anerkannte Praxis: In der westafrikanischen Republik Benin wird, ausgerufen vom Staatspräsidenten, seit 1996 der 10. Januar als "Nationaler Voodoo-Tag" begangen. Der immerhin aus Bayern stammende ehemalige Bischof von Rom, Joseph Ratzinger, hat gegen diese Staatspraxis in Benin eindringlich protestiert. Eigentlich sollten bayerische Richter also davon wissen.

Gern allerdings wäre man dabei, die bayerische Diplomatie in Aktion zu erleben: Wenn seine Exzellenz Ministerpräsident Horst Seehofer, Staatsoberhaupt des Freistaats Bayern, seine Exzellenz Boni Yayi, Präsident des Freistaats Benin, um Nachsicht dafür bitten muss, dass die bayerische Justiz eine staatlich anerkannte Glaubensrichtung des fernen Landes für inexistent, ja, mit einer obskuren alternativmedizinischen Heilpraxis für gleichranging erklärte.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Recht und Magie: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18079 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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