Vor 80 Jahren wurde das Münchener Abkommen zulasten der Tschechoslowakei geschlossen. Heute steht es symbolisch für gescheiterte Appeasement-Politik. Mit drei deutschen Gerichtsentscheidungen lassen sich seine konkreten Folgen illustrieren.
Vor allem unter politisch und historisch gebildeten Menschen der angelsächsischen Welt gilt das in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 geschlossene Münchener Abkommen als Synonym für Versuche, erwartbar vertragsbrüchige Diktaturen durch Befriedigung ihrer Forderungen von offener Gewalt abzuhalten.
Indem die Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und Italiens dem Deutschen Reich den Zugriff auf das Territorium der Tschechoslowakei (ČSR) erlaubten, brachen sie mit einem zugleich vernunftrechtlichen wie zivil- und völkerrechtlichen Fundamentalprinzip: dem Verbot von Verträgen zulasten Dritter.
Das Münchener Abkommen erlaubte dem Reich die "Besetzung" der überwiegend deutschsprachigen Gebiete der ČSR (Sudetenland). Damit ihrer strategisch wertvollen Gebirgsgrenze zu Deutschland beraubt, wurde die verbleibende ČSR – unter Bruch der bilateralen Grenzvereinbarung vom 20. Oktober 1938 – bereits am 15./16. März 1939 durch Besetzung des tschechischen Landesteils zerschlagen und als sogenanntes Protektorat Böhmen und Mähren direkter deutscher Herrschaft unterworfen.
Die offensichtlichen Folgen des Münchener Abkommens sind bekannt – beispielsweise, dass die solide Rüstungsindustrie der ČSR bald darauf die Wehrmacht gegen Briten und Franzosen ausstattete. Der Dissens zwischen späteren tschechischen und bundesdeutschen Regierungen darüber, ob das Abkommen als Vertrag zu Lasten Dritter von Beginn an oder erst später – ex nunc oder ex tunc – nichtig gewesen sei, beschäftigte Diplomaten sogar bis in die jüngste Vergangenheit.
Kluger Rechtsanwalt flieht - aber zu früh?
Doch interessanter als das abstrakte Spiel auf dem diplomatischen Parkett sind womöglich Rechtsfragen, die der deutsch-tschechoslowakische Konflikt des Jahres 1938 über die kleineren Leute brachte.
Ein Beispiel für die juristische Abwicklung des epochalen Terrors bietet ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 29. Januar 1970 (Az. III C 85.68). Es klagte hier ein Mann jüdischer Herkunft und deutscher Volkszugehörigkeit, der bis in den Sommer 1938 als Rechtsanwalt in Prag tätig war. Am 27. August 1938 reiste er mit einem 60-Tage-Visum in die USA, ohne seine Praxis und Wohnung aufzugeben.
Unter dem Eindruck des Münchener Abkommens kündigte er seine Wohnung in Prag, die Möbel wurden in der Wohnung der Mutter und des Bruders untergebracht. Er blieb polizeilich dort gemeldet. Mit verlängertem US-Visum trat er im März 1939 die Rückreise nach Prag an, doch erreichte ihn telefonisch in London die Warnung der Mutter vor dem deutschen Einmarsch in Prag. Er konnte im September 1939 in die USA zurückkehren.
Seit 1965 begehrte der frühere Anwalt im Rahmen des Lastenausgleichs die Feststellung seines Schadens an Betriebsvermögen und Hausrat. Das Ausgleichsamt lehnte den Antrag unter Verweis auf § 5 Abs. 1 Satz 1 der 7. Feststellungsdurchführungsverordnung zum Lastenausgleichsgesetz ab. Die Vorschrift regelte die Ansprüche von Menschen, die aus rassischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen des NS-Staats befürchten mussten und daher nicht erst nach 1945 als deutsche Staats- oder Volkszugehörige aus den deutschen Staats- bzw. Siedlungsgebieten Mittel- und Osteuropas vertrieben wurden.
Nach Auffassung des Ausgleichsamts war der Anwalt aber, indem er schon im August 1938 in die USA reiste, zu früh vor dem NS-Staat geflohen. Er hätte für die Anerkennung seiner Vermögensschäden bis zum 1. Januar bzw. 15. März 1939, dem unmittelbaren Zugriff des Deutschen Reichs auf seine Person und sein Vermögen warten müssen.
Das BVerwG teilte diese Auffassung nicht: Bis zum deutschen Einmarsch im März 1939 habe der Kläger erkennbar nicht beabsichtigt, seinen Wohnsitz in Prag aufzugeben, und einen neuen Wohnsitz in den USA nicht begründet. Allein darum schadete ihm seine – vom Ausgleichsamt unterstellte – Umsicht bei der Flucht aus Europa im System des deutschen Lastenausgleichs nicht.
Groteske des trinationalen Adelsrechts
Mit Urteil vom 26. Mai 1959 entschied das BVerwG in einer Sache, in der das – insoweit ohnehin anfällige – deutsche Adelsrecht um eine leicht groteske Fußnote reicher wurde. Der Kläger hatte es sich erlaubt, nach dem Krieg in Bayern mit einem adeligen "von" im Namen zu leben – zu Unrecht, wie ihm das Einwohnermeldeamt mit Verfügung vom 2. August 1952 mitteilte. Der 1902 im österreichisch-ungarischen Imperium geborene Mann war nach dem Ersten Weltkrieg Bürger der ČSR geworden, die ebenso wie die Republik Österreich das Weiterführen von Adelsbezeichnungen untersagte.
In der Folge des Münchener Abkommens sowie der im November 1938 – unter Mitwirkung des später prominenten Hans Globke (1898–1973) – getroffenen deutsch-tschechischen Vereinbarung zur Regelung der Staatsangehörigkeiten war der Mann Reichsbürger geworden.
Daraus schloss er, nunmehr entsprechend zur deutschen Praxis, nach der seit 1919 die Adelstitel und -partikel als Teil des bürgerlichen Namens behandelt wurden – während sie in den beiden Nachfolgestaaten des k.u.k. Reichs gänzlich beseitigt worden waren –, sein "von" wieder führen zu dürfen. Das habe sich – seit 1938! – aus dem Gleichheitssatz von Artikel 109 Weimarer Reichsverfassung (WRV), ergeben. Außerdem habe im Protektorat Böhmen und Mähren ein Verwaltungsgewohnheitsrecht bestanden, dem zufolge der Adelsname wieder zu führen erlaubt gewesen sei.
Das BVerwG mochte an ein solches Gewohnheitsrecht nicht glauben und machte mit Blick in ein – ebenfalls unter Globke-Expertise entstandenes – Gesetz auch die Hoffnung auf ein irgendwie sonst zurückgekehrtes "von" zunichte: Das Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 5. Januar 1938 hatte die Namensänderungsbefugnis klar bei den Behörden monopolisiert.
Nicht nur aus Kuriositätenlust, auch für die Differenzialdiagnose zur Frage, wie beherzt oder vorsichtig in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik mit solchen behördlichen Kompetenzen verfahren wurde bzw. wird, lohnt dieses Urteil.
Streit um gut 600 Hektar Wald
Bis ins Jahr 2010 reichte ein Rechtsproblem zu dem cirka 600 Hektar großen Waldbestand, den die frühere freie Reichsstadt, dann zum k.u.k Reich, dann zur ČSR zählende, dann infolge des Münchener Abkommens vom Deutschen Reich angeeignete, schließlich wieder tschechoslowakische, heute tschechische Stadt Eger/Cheb, auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Bayern ihr eigen nennt.
Seit dem Hochmittelalter hatte Eger im bayerisch-böhmischen Grenzgebiet einen beträchtlichen Waldbestand gepflegt. Seit 1862 lag der Egerer Stadtwald auf bayerischem Staatsgebiet.
Im Auftrag der Stadtverwaltung von Cheb wurde für eines der Waldgrundstücke am 19. Oktober 1965 eine Briefgrundschuld bestellt. Der Grundbuchrichter holte hierzu eine Erklärung des Bundesministers des Inneren ein, ob diese Belastung des Grundstücks durch das derweil in Kraft getretene "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse nicht mehr bestehender öffentlicher Rechtsträger (Rechtsträger-Abwicklungsgesetz)" zu unterbinden sei.
Nach § 27 Abs. 5 Rechtsträger-Abwicklungsgesetz fielen Vermögensgegenstände im räumlichen Geltungsbereichs des Gesetzes, die im Eigentum von öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften standen, die ihrerseits in Staaten lagen, zu denen die Bundesrepublik Deutschland – im Rahmen des Alleinvertretungsanspruchs der Hallstein-Doktrin – keine diplomatischen oder vergleichbaren Beziehungen pflegte, unter die treuhänderische Verwaltung des Bundes. Der Egerer Stadtwald zählte hierzu, pflegte die kommunistische Regierung in Prag doch diplomatische Beziehungen zur DDR, nicht zu Bonn.
Mit Beschluss vom 20. Juni 1972 (Az. BReg Z 37/70) klärte das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) über zahlreiche Rechtsfragen in diesem Zusammenhang auf – und dokumentierte den verzwickten Streit um den Egerer Stadtwald.
Bajuwarische und ostrechtliche Fingerhakelei
Da durch notarielle Urkunde zur Grundschuldbestellung im Oktober 1965 bereits vor Inkrafttreten des gesetzlichen Hindernisses – des Rechtsträger-Abwicklungsgesetzes – über das Grundstück verfügt worden war, griff das rechtliche Interesse des Bundesinnenministers nicht durch, dass die Eintragung der Grundschuld zu unterbleiben habe.
Detailliert klärte das BayObLG zudem darüber auf, dass die Gebietskörperschaft der Stadt Eger bzw. Cheb weder durch die Vertreibung der deutschen Bürger, rund 90 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung, in den Jahren nach 1945 ein Ende gefunden hatte noch durch die staats- und kommunalverfassungsrechtlichen Regelungen der kommunistischen Diktatur.
Die Stadt Cheb hielt die Rechte der Stadt Eger – auch gegen den Versuch einer Vereinigung von vertriebenen Bürgern Egers, sich als eine Art mobile Stadtgemeinde im Exil zu rekonstituieren, nicht zuletzt, um den zivilrechtlichen Zugriff der Kommunisten auf den Kommunalwald im Freistaat Bayern zu unterbinden.
Eigentlich könnte die Geschichte der deutschen Ostvertriebenen vorbildlich sein, ist unser Planet heute doch vielfach eine Welt der Flüchtlinge. Sogar der mit viel bajuwarischer und ostrechtlicher Fingerhakelei betriebene Kampf um den Egerer Stadtwald ist im Grund exemplarisch friedfertig, bedenkt man, dass etwa die politischen Vertreter der zeitgleich heimatvertriebenen Palästinenser seit den frühen 1970er Jahren eine Konjunktur des weltweiten Terrorismus zu verantworten hatten.
Dass hierzulande jedoch vielstimmig die Gültigkeit des Münchener Abkommens verteidigt wurde, man sich mitunter sogar dazu verstieg, es mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zu verquicken, half nicht dabei, aus der deutschen Fluchtgeschichte ein universales Lehrstück zu machen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31209 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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