Im Gegensatz zum Marken-Kräuterbonbon haben die Schweizer wenigstens das nicht erfunden: das Mehrheitsprinzip. Es kam im Gepäck katholischer Geistlicher mit juristischer Ausbildung über die Alpen. Streit verursachte es damals wie heute.
Nach Auszählung der Stimmen zur britischen Volksbefragung darüber, ob das Königreich weiter der Europäischen Union angehören solle oder nicht, ging die Diskussion los. Manchem erscheint das Ergebnis viel zu knapp, einige zweifeln zudem am politischen Verstand der stimmberechtigten Untertanen ihrer Majestät. Greifbarer ist schon der Einwand, dass langjährig im Ausland residierende Briten keine Stimme hatten.
Dem stehen glühende Bekenntnisse zur Demokratie gegenüber, die Respekt gegenüber der Mehrheitsentscheidung einfordern und dabei gerne übersehen, dass das formale Design der Stimmabgabe zum 23. Juni 2016 keine Verbindlichkeit des Ergebnisses vorsah. Dabei lernt jeder Jurist auf diesem Erdenrund bekanntermaßen, dass es gilt, formale Vorgaben zu ehren, schützen sie doch Ordnung und Freiheit. Aber natürlich schließt auch das britische Prinzip der Parlamentssouveränität nicht aus, dass sich das allgewaltige Gremium dem Zwang eines knapp bemessenen Volksbefragungsresultats unterwirft.
Dagegen, dass nach einer Abstimmung, unabhängig ob vorab für formal verbindlich erklärt oder nicht, Gezänk über die Würdigung des Ergebnisses aufkommt, hilft eigentlich nur ein Mittel: die Einstimmigkeit.
Grundlagenforschung zum Mehrheitsprinzip
Ein hübsches Stück juristischer Grundlagenforschung "Zur Geschichte des Majoritätsprinzips (Pars maior und Pars sanior), insbesondere nach schweizerischen Quellen" legte der später in Tübingen lehrende Schweizer Kirchenrechtsgelehrte Ferdinand Elsener (1912–1982) 1956 in der "Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung" vor (S. 74–116; 560–570). Es handelt nicht zuletzt von der Ablösung des Einstimmigkeits- durch den Mehrheitsgrundsatz.
Anders "wie etwa in Deutschland", stellt der eidgenössische Gelehrte fest, sei "das Majoritätsprinzip in der Schweiz in den letzten hundert Jahren nie eigentlich ein Problem" gewesen, "sondern etwas Selbstverständliches, fast Angeborenes". Schon 1956, will uns das sagen, blickte die Schweiz auf stolze 100 Jahre Demokratie mit Mehrheitsentscheidungen zurück. Ein feiner Seitenhieb fürs deutsche Publikum, das sich gerade einmal zehn Jahre zuvor durch alliierte Truppen vom kollektiven Strammstehen unterm Führerprinzip hatte befreien lassen müssen, steckt natürlich auch dahinter.
Elsener notiert: "Bestimmte Fragen haben die Geister seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden immer wieder beschäftigt: Gilt allein die Überlegenheit der Zahl, oder sollen die Stimmen nicht nur gezählt, sondern auch gewogen werden? Hat sich die Minderheit der Mehrheit zu fügen, oder wird die Minderheit durch Beschlüsse der Mehrheit gar nicht verpflichtet? Kann sich die Minderheit gegen die Majorisierung unter bestimmten Voraussetzungen zur Wehr setzen? Genügt überhaupt ein bloß 'einfacher' Mehrheitsbeschluß oder ist ein 'qualifiziertes' Mehr erforderlich?"
Der Gelehrte behandelt diese Fragen, die sich auch heute unschwer in nahezu jeder Diskussion zum Brexit wiederfinden lassen, anhand der juristischen Rezeptionsgeschichte des Mehrheitsprinzips, am Beispiel vor allem des eidgenössischen Demos – mit einer vielleicht überraschenden Voraussetzung.
Mehrheitsprinzip ist nicht "angeboren"
Bevor die Schweizer im 19. Jahrhundert eine leistungsfähige Demokratie für sich entdeckten, herrschte unter ihnen die Vorstellung vor, dass Entscheidungen einstimmig zu treffen seien.
In der hellen Sonne des Mittelmeerraums war zwar schon in der Antike der Gedanke aufgekommen, dass Mehrheitsentscheidungen vernünftig seien. Vielleicht, weil man das Volk ungern in der Mittagshitze herumstehen lassen mochte, bis Einstimmigkeit erreicht sei. Elsener nennt als Beispiel größter Hingabe an das Majoritätsprinzip: "Sokrates anerkannte selbst die Mehrheit jenes Gerichts, das ihn zum Tode verurteilte. Er meinte nach seiner Verurteilung, der Staat würde zerrüttet, in dem die einmal gefällten gerichtlichen Urteile keine Kraft hätten, und so nahm er im Gehorsam vor den Gesetzen seiner Polis den Schierlingsbecher" – statt sokratischer Methode, sokratischer Konsequentialismus.
Unter den frühen Vorfahren des Schweizervolks findet Elsener hingegen keine Spur von sokratischem Intellekt, laut Tacitus' "Germania" hätten die alten Germanen "an den Volksversammlungen durch das Zusammenschlagen der Speere ihre Zustimmung bezeugt und durch lautes Murren ihre Ablehnung". Noch im 6. Jahrhundert nach Christus heißt es im Werk des römischen Historikers: "Die Stimmen wurden also bei den Germanen nicht gezählt; den Ausschlag gab der größere Lärm, sei es der Waffen oder des Gemurrs, wobei wir füglich annehmen dürfen, daß die 'tonangebenden' Häuptlinge die Massen in den meisten Fällen mitgerissen haben […]."
Martin Rath, Das Majoritätsprinzip: Zankapfel seit eh und je: . In: Legal Tribune Online, 03.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19869 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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