Literatur: Akademikerleben, Diagnose und Therapie

von Martin Rath

09.02.2014

"Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?" Auf den ersten Blick scheint die Antwort nur eine Parodie auf akademische Ausdrucksformen zu sein. Juristen kennen das vielleicht von der schmunzelerregenden "Nagelmann-Festschrift". Doch kann man Karl-Heinz von Halles Bielefeld-Buch auch als Einladung lesen, sich mit dem Ernst von Wissenschaft auseinanderzusetzen.

Das unter dem Pseudonym Karl-Heinz von Halle herausgebrachte Buch "Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?" behandelt geographische, psychologische, sport- und sexualwissenschaftliche Aspekte der titelgebenden Frage. Selbstverständlich kommen auch die wirklich wichtigen Wissenschaften zu Wort, also Volkswirtschaftslehre und die Rechtswissenschaft.

Der äußeren Form nähert sich das Werk von Halles dem akademischen Bericht an, genauer: der Dokumentation interdisziplinärer Forschungstätigkeit. Unter Professoren der Rechtswissenschaften wird bekanntlich eine gewisse akademische Geselligkeit gepflegt, indem man sich gegenseitig in Kommentaren und Lehrbüchern referiert, zu großen Geburtstagen erscheint eine Festschrift.

Wissenschaftler reden miteinander – verständlich?

In den übrigen Wissenschaften bedarf es weiterer Formen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Seit 1968 existieren beispielsweise die sogenannten "Sonderforschungsbereiche", in denen man interdisziplinär Forschungsergebnisse präsentiert. Vielbändige Dokumentationen erstaunlicher Gelehrsamkeit sind dabei über die Jahrzehnte entstanden, dem akademischen Fußvolk – von Normalsterblichen ganz abgesehen – sind sie mitunter kaum noch begreiflich zu machen.

Von Halles Werk greift eine jüngere Form interdisziplinärer akademischer Regsamkeit auf, die Berichte sogenannter Exzellenzcluster. Die deutsche Wissenschaft hat damit eine neue Form der Verständigung mit sich selbst gefunden – und das vielleicht sogar für die nächsten 40 Jahre.

Pseudonym und Parodie

Das Spiel mit dem Pseudonym – der Autor ist im wahren Leben Universitätsprofessor, Angehöriger einer juristischen Fakultät – und mit der akademischen Text-Form des Meta-Studienberichts, erinnert an die "Nagelmann-Festschrift" von 1984. Damals huldigte der sogenannte "Dritte Senat" des Bundesverfassungsgerichts, also die Schar der Wissenschaftlichen Hilfsarbeiter des Gerichts, dem erfundenen Friedrich G. Nagelmann mit einer Anthologie gelehrter juristischer Aufsätze. Das Festschriftenwesen darf als mitunter Blüten treibende Eigenart der deutschen Wissenschaften gelten, "festschrift" ist heute ein Lehnwort im Englischen, was eine gewisse Komik indiziert.

Das "Bielefeld"-Buch, entsprechend der "Nagelmann-Festschrift" aber bloß als Parodie auf die Bemühungen seriöser Forscher zu lesen, sich interdisziplinär zu verständigen, wäre aber eine bedauerliche Lesart.

Wenn Wissenschaftler versuchen, interdisziplinär zu arbeiten, haben sie schon ohne Spott vom Spielfeldrand ein Problem: Das, was von ihren Aussagen über die je eigene Disziplin hinausgeht, kann eigentlich niemand prüfen – denn die Prüfung von Aussagen erfolgt in der Disziplin, nicht inter-disziplinär.

Wenn sich ein ordentlich bestallter, akademisch lehrender Wissenschaftler auf interdisziplinäre Formen einlässt, ob in einer Festschrift oder einem Exzellenz-Beitrag, verlässt er also schon freiwillig den heiligen Ernst seiner engeren Zunft. Daher kann man, trotz der parodistischen Seiten, die gesammelten wissenschaftlichen Aspekte zur "Bielefeld-Frage" auch als seriöse Aufforderung lesen, sich mit den Grenzen wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit auseinanderzusetzen.

Wer dann noch mehr über die Grenzen wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit erfahren möchte, ergänzt die "Bielefeld"-Lektüre um ein Buch, das in keinem Akademikerhaushalt fehlen sollte, von Jochen Hörisch: "Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen".

Eine heitere Diagnose und eine staunenswerte Therapie in einem Zwei-Buch-Handapparat. Was will man mehr.

Literatur: Karl-Heinz von Halle: "Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?", Eichborn im Lübbe-Verlag, 160 Seiten, ISBN 978-3-8479-0546-2, 9,99 Euro, eBook 8,49 Euro

Jochen Hörisch: "Theorie-Apotheke", Suhrkamp-Verlag, 386 Seiten, ISBN 978-3-518-46152-5, 12 Euro, eBook 11,99 Euro.

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Literatur: . In: Legal Tribune Online, 09.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10933 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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