Lehrbuchfall "Sirius": Katho­li­sche Hilfs­ar­gu­mente gegen E.T. vor Gericht

von Martin Rath

19.12.2010

Gläubige Christen bereiten sich in der Adventszeit auf die "zweite Ankunft des Messias" vor. Gar nicht gesellschaftsfähig ist es hingegen, wenn der Glaube nicht über-, sondern außerirdischen Wesen gilt. Mit dem "Sirius-Fall" kam diese bizarre Idee in die deutsche Rechtsgeschichte. Doch nicht nur Juristen kämpfen mit der Provokation des Außerirdischen. Ein Adventsessay von Martin Rath.

Damals, als Helmut Schmidt noch Bundeskanzler war, müssen die Wesen vom Sirius viel in Deutschland unterwegs gewesen sein. Anders als bei den "Men in Black" traten sie öffentlich in Erscheinung. Einer von ihnen sagte zu seiner Person: "Ich wurde auf Sirius ausgebildet, und dort will ich auch wieder hin, obwohl ich noch in Kürten bei Köln wohne."

Um die vorweihnachtliche Stimmung nicht zu verderben, soll später verraten werden, wer das sagte. Zunächst ist aber ein ernsterer Tonfall geboten.

Zu den bizarren Kriminalprozessen der deutschen Rechtsgeschichte, über die man sich trotzdem nicht lustig machen darf, zählt der "Sirius-Fall". Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Geschichte nach den Vorgaben des Landgerichts Baden-Baden recht plastisch erzählt (Urt. v. 05.07.1983, Az. 1 StR 168/83).

Im Jahr 1973 oder 1974 hatte der spätere Angeklagte in einer Diskothek eine junge Frau kennengelernt. Es entwickelte sich "eine intensive Freundschaft, in der sexuelle Kontakte unwesentlich blieben". Wesentlich waren Gespräche über Psychologie und Philosophie, der Mann wurde darüber zum "Lehrer und Berater" der jungen Frau: "Sie vertraute und glaubte ihm blindlings."

Der "Mann vom Sirius" - französisch inspiriert?

Was angesichts der immer absurderen Inhalte seiner Erzählungen schwer zu glauben ist, eröffnete er ihr doch, "er sei ein Bewohner des Sterns Sirius" und als solcher Angehöriger einer "Rasse, die philosophisch auf einer weit höheren Stufe stehe als die Menschen."

Auf die Idee könnte ihn eine Erzählung Voltaires gebracht haben. In "Micomégas" ließ der französische Philosoph 1752 einen Besucher vom Sirius die Erde besuchen und ihren niedrigen Entwicklungsstand bestaunen. Literaturhistorische Details interessierten natürlich kein Gericht - umso mehr die weitere Entwicklung dieser bizarren Beziehung und ihre juristische Bewertung.

Dass der "Mann vom Sirius" die junge Frau wirtschaftlich auszunutzen begann, gab Anlass zur späteren juristischen Fallgeschichte. Sie zahlte ihm erhebliche Geldbeträge, damit er ihr durch die "totale Meditation" eines esoterischen Mönchs eine höhere Entwicklungsstufe verschaffe. Das Geld musste sie sich bei der Bank leihen.

Tatsächlich verjubelte der angebliche Außerirdische die Beträge für sich, der Erfolg in Form einer "geistigen Weiterentwicklung" blieb aus. Weil die Frau aber "von der Richtigkeit seiner Erklärungen noch immer völlig überzeugt war" erklärte der Mann schließlich, "in einem roten Raum am Genfer See" stehe für sie ein neuer Körper bereit. Darin werde sie sich als Künstlerin wiederfinden, wenn sie sich von ihrem alten Körper trenne.

Das Geld für ihr neues Leben sollte durch eine Lebensversicherung beschafft werden, die sie dann auch tatsächlich zu seinen Gunsten abschloss – im Falle ihres Unfalltodes über 500.000 Mark.

In dem Glauben, sie würde nach dem Tod ihres alten Körpers – geistig etwas modifiziert – in einem neuen Körper aufwachen, unternahm die Frau in der Folge zwei Selbsttötungsversuche. Zuerst scheiterte ein vorgetäuschter Autounfall. Später, am 1. Januar 1980, sollte sie einen eingeschalteten Fön ins Badewasser fallen lassen. Ihr philosophischer  "Lehrer und Berater" hielt sich derweil anderenorts auf.

Nachdem auch dieser Suizid in der Badewanne gescheitert war, nahm der Mann "vom Sirius" von "weiteren Bemühungen Abstand, weil er sie für aussichtslos hielt".

Juristische Bewertung um den Wahnsinn verkürzt

Weil das Landgericht bei der jungen Frau keine psychische Störung bemerken wollte, gab es in der juristischen Bewertung ein Problem. Das deutsche Recht kennt bekanntlich keine Strafbarkeit des Selbstmordes. Ohne Strafbarkeit der eigentlichen Tat aber auch keine Strafbarkeit der Anstiftung.

Zur Strafbarkeit des Mannes "vom Sirius" kam der BGH durch die Konstruktion der mittelbaren Täterschaft. Durch ihren Irrtum sei die Frau "zum Werkzeug gegen sich selbst geworden", Täter "kraft überlegenen Wissens" sei der Mann gewesen. Ihr Irrtum habe darin bestanden, nicht "durch das Tor des Todes in eine transzendente Existenz" zu gehen, sondern in einem neuen, menschlichen Körper "im roten Raum am Genfer See zu erwachen".

Die Krux dieser Argumentation lag darin, dass sich die Frau bei ihren Suizidversuchen nicht im Zustand der Schuldunfähigkeit befand – eine entsprechende psychische Störung lag nach Ansicht der Richter nicht vor. Auch befand sie sich eigentlich nicht im Irrtum über die Konsequenzen ihres Tuns; war ihr doch bewusst, dass ihr "alter Körper" sterben würde. Die Schuldunfähigkeit oder der relevante Irrtum über die Konsequenzen, beides galt und gilt der Strafrechtsdogmatik aber als Voraussetzung dafür, dass ein Mensch "zum Werkzeug gegen sich selbst" werden kann.

Das Urteil hat im Ergebnis dennoch Zustimmung erhalten. Claus Roxin schloss sich ihm damals mit dem Argument an, die Frau habe an die Erhaltung ihrer "geistig-seelischen Struktur" glauben dürfen und habe sich damit über die Konsequenz ihres physischen Todes täuschen lassen – was die Tatherrschaft des "Mannes vom Sirius" begründet habe (Neue Zeitschrift für Strafrecht, NStZ 1984, 70-73). Ganz wohl war Roxin dabei offenbar nicht, schlug er doch eine Klarstellung durch den Gesetzgeber vor.

Zu den frühen Stimmen, die dem Urteil im Ergebnis beipflichteten, zählte Kurt Sippel, der aber die Urteilsbegründung kritisierte (NStZ 1984, 357-358). Da sich die Frau über die Konsequenz ihrer Selbsttötungsversuche bewusst gewesen sei, nämlich über ihren körperlichen Tod, habe sie sich nicht in einem relevanten Irrtum befunden. Was dem Mann "vom Sirius" die entscheidende – und zu bestrafende – Macht über die junge Frau gegeben habe, sei deren teilweise psychische Gestörtheit gewesen.

Geklärt hat der Gesetzgeber die Abgrenzung beim Problem der (Selbst-) Tötung bis heute, also nach einem Vierteljahrhundert, nicht. Immer noch werden die "Straftaten gegen das Leben" im Wesentlichen so definiert wie bei ihrer letzten großen Reform geschehen – im Kriegsjahr 1941.

E.T.-freundlicher Zeitgeist im Gerichtssaal?

Man muss wissen, dass das Außerirdische damals Konjunktur hatte. Nur so lässt sich wohl erklären, dass ein intellektuell offenbar verschrobener Mann einer womöglich labilen jungen Frau die Geschichte von seiner Herkunft vom Sirius einimpfen konnte.

Diese Konjunktur wurde beileibe nicht nur von Esoterikern und/oder Verbrechern getragen. Beispielsweise veröffentlichte Paul Krugman 1978 eine wirtschaftswissenschaftliche Untersuchung über "Interstellaren Handel". Trotz einiger ironischer Nebentöne ein seriöses Rechenwerk, das Krugmans Karriere nicht im Wege stand – 2008 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.

Zum 200. Geburtstag, den die USA 1976 begingen, gab die Bonner Bundesregierung ein "repräsentatives Werk" beim avantgardistischen Musikprofessor Karlheinz Stockhausen in Auftrag – es entstand die experimentelle Komposition "Sirius". Ein Werk, zu dem sich Stockhausen besonders berufen fühlen durfte (DER SPIEGEL Nr. 27 vom 3. Juli 1978).  Er war es, der damals öffentlich erklärte, auf dem Sirius ausgebildet worden zu sein und einst – wohl nach seinem irdischen Ende – dorthin zurückkehren zu wollen.

Vielleicht war dieser E.T.-freundliche Zeitgeist auch durch die Gerichtssäle des Landgerichts Baden-Baden und des BGH in Karlsruhe geweht: Eine junge Frau hatte im Zeugenstand angegeben, sie habe geglaubt, ihr "Lehrer und Berater" stamme vom Sirius. Einerseits ist es bemerkenswert, dass die Gerichte darin kein Signal für eine relevante psychische Störung sehen wollten, obwohl ihnen das eine dogmatisch schlichtere Argumentation erlaubt hätte.

Andererseits wäre es doch unter der Würde des Gerichts gewesen, den Mann "vom Sirius" astrobiologisch auf seine irdische Anatomie begutachten zu lassen. Und die Richter waren sicherlich auch nicht so weit vom Zeitgeist befangen, dass sie einen Ortstermin am Genfer See angesetzt hätten – um nachzuschauen, ob der "rote Raum" vielleicht doch existierte.

Gegen solche "überspannten Anforderungen" an die richterliche Überzeugung zu den Fakten eines Strafprozesses baut bekanntlich der BGH mit seiner Formel vor, der Richter solle eine persönliche Gewissheit haben, gegenüber der vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen.

Katholische Argumente gegen dahergelaufene E.T.‘s

Es wäre in einer freiheitsliebenden Gesellschaft nur zu begrüßen, würden Strafrichter diese Pathos-Formel erst dann zulasten eines Angeklagten verwenden, wenn seine Verteidigung bis an die Grenzen des Absurden geht. In künftigen Grenzfällen, ähnlich dem "Sirius-Fall", könnten die Gerichte diesen Freiraum sogar geben, ohne der Verteidigung vorab anzudeuten, sie habe im Zweifel nicht alle Untertassen im Schrank.

Dabei hilft dann vielleicht ausgerechnet die katholische Kirche. Ende des 18. Jahrhunderts provozierte der englische Revolutionsfreund Thomas Paine die Kirche mit seiner Frage, wie außerirdische Intelligenzen mit dem christlichen Erlösungsglauben vereinbar seien: Müssten sie alle durch das Drama der Fleischwerdung Gottes und den Opfertod des Gottessohns gehen? Armin Kreiner, seit 2003 Professor für Fundamentaltheologie in München, rechnet vor, dass bei nur einem von intelligentem Leben bewohnten Planeten pro Galaxie, 10 hoch 10 Inkarnationen notwendig seien – selbst für Gott also ein absurder Termindruck.

Der Jesuit Domenico Grasso, Theologieprofessor an der Gregorianischen Universität in Rom, löste das Problem indes schon 1977 mit der Erklärung: "Irgendwo im außerirdischen Raum leben Menschen, die nie durch den Sündenfall von Gott getrennt wurden."

Ins Alltagspraktische übersetzt muss das wohl heißen: Sollte sich einmal ein Außerirdischer auf die Erde verirren, hat er jedenfalls nach katholischer Doktrin ohne Sünde zu sein.

Damit dürfte es ihm schwerfallen, zum Angeklagten eines Strafprozesses zu werden, selbst wenn der nur mit irdisch-beschränkter Vernunft verhandelt wird.

Ob mit der jesuitischen Lehre auch die himmlische Herkunft Karlheinz Stockhausens zu widerlegen ist, wissen allein die Sterne. Es soll immerhin Menschen geben, die seine Werke für eine Sünde an der Musik halten.

Martin Rath, freier Lektor und Journalist in Köln. Dem Wunsch Karlheinz Stockhausens, ein UFO vom Sirius möge auf dem Flughafen Köln-Bonn landen, kann er nichts abgewinnen – der Einflug könnte über seinem Stadtteil stattfinden.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Lehrbuchfall "Sirius": . In: Legal Tribune Online, 19.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2184 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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