Juristen in der Kunst: Loriot hörnt den Schöffen von Paris

von Martin Rath

13.07.2014

2/2: Wer sein Land liebt, der raubt es aus

König Karl VII. (1403-1462) ist bei Dorn/Wohlbrück ein ziemlicher Draufgänger, der sich selbst in die Stadt einschleicht, um Unruhe zu stiften, denn seine tapfersten Ritter wollten einander solange aus Bescheidenheit den Vortritt lassen, bis sich unter ihnen keiner mehr fand. Sein Mut ist hier ein schöner Zug an Karl, den wir ja sonst meist als feigen Nutznießer der kriegerischen Jungfrau von Orléans kennen.

Kaum ist der König inkognito im besetzten Paris angekommen, trifft er schon auf Matout, den Glöckner von Notre Dame, der sich beim "Schöffen von Paris" durch mangelnde Motivation beim Glockengeläut unbeliebt gemacht hat – und vergisst, in welcher Mission er sich überhaupt in die Stadt geschlichen hat. Statt im feindlichen Heer Unruhe zu stiften, geht er – hierin ganz Politiker – der Meinungsforschung nach, indem er, im Schutz seines Inkognitos, Matout provokativ nach dem Ansehen des Königs befragt: "Sein Sinn ist stets nur zugewandt / Verliebten Tändelei’n", behauptet Karl in demoskopischem Interesse von sich selbst: "Und mehr wohl liebt er als sein Land / Die Mädchen und den Wein." Als treuer Untertan antwortet der Glöckner seinem König: "Daß Frankreich Wein und Mädchen giebt, / Ist aller Welt bekannt: / Drum wenn er" – gemeint ist König Karl – "wenn er Wein und Mädchen liebt, / So liebt er ja sein Land".

An den Worten, mit denen Wohlbrück/Dorn die Liebe des  Herrschers zu seinem Land reichlich pragmatisch beschreiben, ist zum einen bemerkenswert, dass sich französische Spitzenpolitiker bis in die jüngste Vergangenheit gern ganz ernsthaft nach dieser komödiantischen Erklärung verhielten.

Repräsentation und Demoskopie

Interessant scheint auch das Problem der Repräsentation und Distanz, das jede Herrschaftsordnung hat: Was weiß der Herrscher über die Meinungen des Demos und wie findet er sie heraus?

Als Wohlbrück und Dorn ihre komische Oper mit großem Erfolg auf die Bühne brachten, war in den deutschen Staaten das Politische noch weitgehend die Domäne der Monarchen. Bis zur Revolution von 1848/49 – mit dem Anspruch allgemeiner parlamentarischer Vertretung aller deutschen Männer – gingen noch zehn Jahre ins Land und die Menschen in diesem sogenannten "Vormärz" wussten nicht, dass der revolutionäre März ’48 einmal kommen würde. Parlamentarismus als Instrument der Meinungserhebung war also noch nicht etabliert. Während sich heute sogar Kommunalpolitiker gelegentlich selbst die Legitimation entziehen, indem sie demoskopische Befragungen in Auftrag geben, statt sich unters Volk zu mischen, ist bei Wohlbrück/Dorn der König selbst ein Demoskop in eigenen Angelegenheiten. Eine komische Oper zum Repräsentations- und Demoskopieproblem haben wir also schon. Die juristische Dissertation zu dieser Opernfigur sicher noch nicht.

Souveränität: Liebe als Zufallsgenerator

Im zweiten Akt der Oper kann König Karl die Stadt Paris einnehmen, weil ein Signal seine Soldaten zum Kampf ruft, obwohl es dazu nicht gegeben wurde: Es diente eigentlich dem studentischen Komplott, dem "Schöffen von Paris" die Braut zu rauben. Am Ende wird der hochverräterische Schöffe begnadigt, Loriot und Therese dürfen heiraten, was den nun offiziell auftretenden König zu folgendem Gesang veranlasst:

"Auf! Laßt der Freude Ruf erschallen! / In die verwaisten Königshallen / Zieh‘ ich von Euch begleitet ein; / Und laut verkünd‘ ich dort vom Throne: / Der schönste Stein in meiner Krone / Soll ewig Eure Liebe sein."

Nach der berühmten Carl-Schmitt-Phrase gilt als souverän, wer "über den Ausnahmezustand entscheidet". Interessant wäre es, könnte man jenem preußischen König, dem der Opern-Komponist Heinrich Dorn als Hofmusiker diente, nachträglich in den Kopf schauen: 1849 lehnte Friedrich Wilhelm IV. es ab, die deutsche Kaiserkrone anzunehmen, die ihm von den demokratischen Abgeordneten der Nationalversammlung angetragen worden war. Davon erholte sich die deutsche Verfassungsgeschichte bekanntlich erst, als sie 100 Jahre später mit dem Bundespräsidenten ein homöopathisch abgespecktes Ersatzkaiseramt schuf.

Bei Wohlbrück und Dorn "entscheidet" niemand über den "Ausnahmezustand". Die Zufälle galoppieren vielmehr fröhlich über die Bühne und ausgerechnet als Liebes-Heiler etabliert sich der semifiktive König Karl im Amt. Liebeszufälle halfen ihm überhaupt, Paris zu gewinnen, den Thron zu besteigen.

Ob die komödiantische Lächerlichkeit einer durch Liebeszufälle gewonnenen Staatsmacht dazu beigetragen hat, dass die preußischen Potentaten ihren Weg vorzugsweise auf "Blut und Eisen" stützten? Mit allen bekannten Folgen nicht nur für die deutsche Verfassungsgeschichte?

Tipp: Das Libretto zu "Der Schöffe von Paris" wird in digitalisierter Form von der Bayerischen Staatsbibliothek online gehalten. Das Werk, das sich wie eine Gemeinschaftsarbeit von Monty Python und Vicco von Bülow (alias Loriot, dem Jüngeren) liest, liegt in einer angenehmen Frakturschrift vor und bietet weit mehr als nur die zitierten komischen Reime.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristen in der Kunst: . In: Legal Tribune Online, 13.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12540 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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