In den Verfahren gegen hochbetagte mutmaßliche NS-Straftäter kommt dem sozialstaatlichen Gesetz nur eine Nebenrolle zu, in der frühen Bundesrepublik bot es aber Stoff für sehr viele Streitigkeiten: das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz.
Zur Rekonstruktion seiner Identität als Teil der Wachmannschaften der Konzentrationslager Auschwitz und Sachsenhausen trug das weitgehend vergessene Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz im Verfahren gegen Reinhold Hanning (1921–2017) noch einmal bei.
Als das Landgericht Detmold Hanning am 17. Juni 2016 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen seiner Beteiligung am Mord in mehr als 170.000 Fällen verurteilte (Az. 4 Ks 45 Js 3/13-9/15 – nicht rechtskräftig), versicherte es sich der Laufbahn des Angeklagten u. a. durch den Abgleich seiner Angaben in den SS-Personalakten mit jenen, die sich in einem 1954 gestellten Antrag auf Leistungen nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz fanden – wobei er seine Tätigkeit in den beiden Konzentrationslagern verschwiegen hatte.
Bevor das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz zur Fußnote in den späten Prozessen gegen hochbetagte mutmaßliche NS-Straftäterinnen und -täter wurde, gab es vor allem ein Beispiel für eine ungeschickte Gesetzgebungstechnik und reichen Stoff für Verfahren um die Anerkennung erlittenen oder empfundenen biografischen Leids ab.
Überschaubare Barentschädigung, beachtliche Darlehensbeträge
In seiner am Ende verbindlichen Form bot das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz (KgfEG) die Rechtsgrundlage für Leistungen an ehemalige deutsche Kriegsgefangene und gewisse ihnen gleichgestellte Personen, die über den 31. Dezember 1946 hinaus einen Verlust ihrer Freiheit erlitten hatten.
Dem Gesetz lag der Gedanke zugrunde, dass deutsche Militärangehörige nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8./9. Mai 1945 zwar hinzunehmen hatten, für eine gewisse Zeit im Gewahrsam der alliierten Streitkräfte zu bleiben.
Erfolgte die Entlassung jedoch erst mehr als rund anderthalb Jahre nach dem Schluss der Kriegshandlungen, erschien es nicht abwegig, eine Art Sonderopfer dieser darüber hinaus ihrer Freiheit beraubten Personen anzunehmen. Während die amerikanischen und britischen Siegermächte ihre Gefangenen recht früh entließen, zog sich die Entlassung aus französischer und vor allem sowjetischer Gefangenschaft oft hin.
Für jeden Kalendermonat "des Festhaltens in ausländischem Gewahrsam – frühestens vom 1. Januar 1947 an" gewährte das Gesetz daher eine Entschädigung von 30 Deutschen Mark (DM) und von 60 DM, sofern der Gewahrsam länger als zwei Jahre angehalten hatte (§ 3 KgfEG 1954).
Einerseits sollten damit auch andere Ansprüche gegen die Bundesrepublik abgegolten sein, beispielsweise wegen Zwangsarbeit im Dienst der Gewahrsamsmacht. Und auch die Reihenfolge sollte nach § 4 KgfEG nur langsam entsprechend der "sozialen Dringlichkeit" binnen fünf Jahren von den Behörden abgearbeitet werden.
Andererseits musste es bei der überschaubaren Entschädigungszahlung von 30 bis 50 DM je Monat entzogener Freiheit nicht bleiben – sie bewegte sich ungefähr in der Größenordnung der Vergütung, die ein Lehrling Anfang der 1950er Jahre für einen Ausbildungsmonat erhielt. Attraktiv waren, bedenkt man die problematische Kreditwürdigkeit der Betroffenen, vor allem die nach dem Gesetz möglichen Darlehen, die den vormaligen Kriegsgefangenen den Kauf von Hausrat und die Schaffung oder Sicherung einer "neuen gesicherten Lebensgrundlage" ermöglichen sollten. Hier war ein Höchstbetrag von durchaus beachtlichen 35.000 DM vorgesehen.
Verschleppung in die Sowjetunion – kein untypischer Fall
Während der kriegsvölkerrechtliche Regelfall – ein gewöhnlicher Soldat wird in Gefangenschaft genommen und von der Gewahrsamsmacht nach einer gewissen, auch bei den westlichen Siegermächten teils recht langen Zeit entlassen – dank amtlicher Papiere, vom Wehrpass bis zum Entlassungsschein, seltener zu Rechtsstreitigkeiten führte, boten insbesondere Fälle der Gefangenschaft oder Verschleppung in die Sowjetunion vielfach Anlass zur gerichtlichen Klärung.
Nicht selten waren Zivilisten betroffen, die das Gesetz teilweise mit regulären Kriegsgefangenen gleichstellte. Für sie war das persönlich oft nur schwer fassbare Kriterium entscheidend, ob die Ursache für den Raub ihrer Lebenszeit in der Kriegsführung oder in den Folgen des Krieges gelegen hatte.
Eine Frau beispielsweise, der es im Frühjahr 1945 nicht gelungen war, mit ihren Familienangehörigen vor den sowjetischen Streitkräften zu fliehen, war bis 1951 zur Zwangsarbeit in einer Kolchose eingesetzt worden.
Weil § 2 Abs. 2 KgfEG (1956) den regulären Kriegsgefangenen unter anderem auch solche Deutschen gleichstellte, "die im ursächlichen Zusammenhang mit Ereignissen, die unmittelbar mit der Kriegsführung des zweiten Weltkriegs zusammenhängen" ihrer Freiheit beraubt wurden, machte sie sich Hoffnung auf Leistungen nach dem Gesetz.
Sie scheiterte jedoch durch alle Instanzen, weil die Verschleppung ungezählter Angehöriger auch der deutschen Zivilbevölkerung in sowjetische Zwangsarbeit als "weitere Kriegsfolge", aber nicht als "unmittelbar mit der Kriegsführung" verbunden gewürdigt wurde (Bundesverwaltungsgericht, Beschl. v. 14.01.1971, Az. V B 52.69).
Ein Anspruch konnte auch daran scheitern, dass die Überwachung seitens der sowjetischen Gewahrsamsmacht von einer Gefangenschaft mit Zwangsarbeit sich etwas abschwächte hin zu einem Verbot der Ausreise und des Arbeitsplatz- und Wohnortwechsels durch den Geheimdienst NKWD (BVerwG, Beschl. 03.11.1971, Az. V B 33.70).
Auch wenn nach dem Hamann'schen Erfahrungssatz der Aussagewert von juristischen Datenbanken für die soziale Realität nicht überschätzt werden sollte, waren es offenbar bis in die 1970er Jahre vermehrt Frauen, die nun spät und oft erfolglos Leistungen nach dem Gesetz begehrten.
Unklare Lage: Verurteilte Kriegsverbrecher
Schwer einzuschätzen ist, wie erfolgreich Kriegsverbrecher, die von alliierten Gerichten verurteilt worden waren, Leistungen nach dem Gesetz beanspruchen konnten.
§ 8 Abs. 1 Nr. 1 KgfEG (1956) schloss von der Entschädigung und den Darlehen zwar aus, "wer der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewaltherrschaft in verwerflicher Weise Vorschub geleistet hatte" und erlaubte es auch, die weniger zurückhaltenden Entscheidungen alliierter Gerichte zu berücksichtigen.
Die regional zuständigen Behörden sollen gleichwohl nicht selten auch früheren Soldaten, die von alliierten Gerichten wegen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg verurteilt worden waren, Leistungen nach dem Gesetz zugestanden haben. Das Kriterium der "Verwerflichkeit" dürfte – angesichts der wechselseitigen Brutalität, die das Kriegsvölkerrecht den Staaten erlaubte – dazu hinreichenden Spielraum gegeben haben. Welchen Anteil dies an der Masse der Entschädigungsleistungen hatte, ist jedoch, soweit erkennbar, statistisch nicht erfasst.
In einem prominenten Einzelfall scheiterte das Entschädigungsbegehren bereits daran, dass das alliierte Gericht zu seinem Urteil nicht zuletzt wegen der Mitwirkung an einem Verbrechen gegen den Frieden – der Annexion Österreichs im Jahr 1938 – gekommen war: Wilhelm Keppler (1882–1960), der als NS-Wirtschaftsfunktionär unter anderem daran beteiligt gewesen war, die Zwangsarbeit polnischer und sowjetischer Staatsangehöriger zu organisieren, war als ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt 1949 im Wilhelmstraßen-Prozess verurteilt, 1951 bereits wieder entlassen worden.
In diesen Freiheitsbeschränkungen mochten die Gerichte nichts sehen, das einer Gefangenschaft wegen militärischen oder militärähnlichen Dienstes gleichkam – er sei aus politischen, nicht militärischen Gründen "von den Amerikanern zur Rechenschaft gezogen worden" (BVerwG, Urt. v. 27.08.1958, Az. V C 6.58).
Lehrbuchtauglichkeit eines Gesetzes
Auch für die biedere juristische Lehre böte das Gesetz bemerkenswertes Material. Denn in seiner ersten Fassung ermächtigte es die Bundesregierung dazu, Rechtsverordnungen unter anderem über die "Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs" zu erlassen, § 44 KgfEG (1954).
In einem Parlamentsgesetz teils nur sehr grob die Richtung anzudeuten und die Regierung für jegliches Detail zur Regelung auf dem Verordnungsweg zu ermächtigen – das war eine Technik gewesen, die in der Weimarer Republik den demokratischen Prozess unterlaufen und auch die formale Grundlage für die Verfassung des NS-Staats geliefert hatte.
Vom federführenden Bundesminister für Vertriebene, Theodor Oberländer (1905–1998), war hier aber keine erhöhte Sensibilität zu erwarten: Seine 3. Durchführungsverordnung vom 3. Juni 1955 traf allzu limitierende Regelungen zu gesetzlich herleitbaren Ansprüchen.
Nachdem unter anderem das Bundesverwaltungsgericht im Fall eines aus Berlin in die Sowjetunion verschleppten BMW-Mitarbeiters in einer philologischen Kleinarbeit die krassen begrifflichen Schwächen der bisherigen Regelungen vorbildlich seziert hatte – Beschluss vom 28. April 1956 (Az. IV C 91.55) – erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass Art. 80 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) verletzt sei. Die Gesetzgebung auf dem Verordnungsweg war nichtig, weil wesentliche Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs nicht im Parlamentsgesetz geregelt worden waren (Beschl. v. 13.06.1956, Az. 1 BvL 54/55 u.a.). Die Materie wurde zügig verfassungskonform nachgeregelt.
Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz gehört damit aber nicht nur ins Lehrbuch für Grundprobleme des Verfassungsrechts.
Wie eine Meistergroteske von Franz Kafka oder Leo Perutz mutet etwa der Fall eines Mannes deutscher Staatsangehörigkeit an, der nur wegen seines Geburtsorts im Memelland auf der Flucht vor der Roten Armee noch im April 1945 in eben diese sowjetischen Streitkräfte "eingezogen, eingekleidet und vereidigt" wurde, später dann aber Entschädigung nach dem Gesetz begehrte (BVerwG, Beschl. 25.10.1971, Az. V B 97.69).
Von den Höllen des 20. Jahrhunderts erfährt viel, wer sich mit dem Versuch befasst, Aufenthaltszeiten zu entschädigen.
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz: . In: Legal Tribune Online, 17.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46370 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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