Umgang mit Kriegsgefangenen: Der Erste Welt­krieg war noch anders

von Martin Rath

21.05.2017

2/2: Einsatz in der Landwirtschaft, gute Überlebenschancen

Kriegsgefangene aus dem Zarenreich wurden seit 1915 bevorzugt zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft eingesetzt, soweit sie nicht als Offiziere davon freigestellt blieben. Französische oder belgische Soldaten traf es mit Arbeitszwang an industriellen Arbeitsplätzen weniger gut. Sie galten der deutschen Militärverwaltung für Tätigkeiten unter freiem Himmel als zu unzuverlässig und leichtfüßig.
Ihre zunächst überwiegend russischen Kameraden in der Landwirtschaft hatten es besser, erhielten sie doch eher Zugang zu Nahrungsmitteln, ohne dass diese erst durch die militärökonomische Mangelverwaltung beschafft werden mussten – vorbei an deutschen Arbeitern, mit der sich der Obrigkeitsstaat gutzustellen hatte.

Zeitzeugenberichte, die natürlich nicht zu den besten historischen Quellen zählen, sprechen von einem oft familiären Verhältnis zu den Kriegsgefangenen in den Dörfern. Unglaubwürdig ist dies nicht, gehörte der Knecht doch auch zur erweiterten bäuerlichen Familie und wird noch aus dem ungleich unwürdigeren Zweiten Weltkrieg berichtet.

Plastisches Beispiel aus dem erweiterten Bekanntenkreis: Ein älterer Herr erzählte von seinen Jahren als Zwangsarbeiter in Deutschland, meint, dass er bei seinen Bauersleuten in Thüringen mehr zu essen gehabt habe als in seiner systematisch ausgehungerten niederländischen Heimat – das nackte Entsetzen kam erst, als er 1945, nach der Befreiung der Region durch die US-Armee, als Dolmetscher rekrutiert, zu sehen bekam, wie in "Mittelbau Dora" die industrielle Ausbeutung der Zwangsarbeiter vollzogen worden war.

Gewalt gehört in staatliche Hand

Doch zurück zum getöteten russischen Kriegsgefangenen. Wenn in dem Urteil des Landgerichts Köslin so sehr betont wird, dass der Angeklagte als beurlaubter Soldat auf der Jagd in nicht in Uniform und mit privater Waffe gehandelt habe, mag dies spontan etwas merkwürdig anmuten.

Dies hatte aber eine mindestens zweifache Bewandtnis: Einmal mochte dies die Aussage des Angeklagten entkräften, geglaubt zu haben, er sei aus einem dienstlichen Befehl berechtigt, wenn nicht verpflichtet gewesen, auf flüchtige Kriegsgefangene zu schießen.

Zum anderen sollten Kriegsgefangene nach den Vorstellungen der damaligen Zeit nicht allein aus humanitären Gründen vor privater Gewaltausübung geschützt sein. Hier wirkte natürlich auch der Gedanke hinein, dass die Behandlung von Kriegsgefangenen in Deutschland Auswirkungen auf die Situation deutscher Soldaten in der Gefangenschaft der feindlichen Mächte hatte.

Das Prinzip der Gegenseitigkeit spielte in diesem Krieg auf vielfältige Weise seine Rolle: Schottische Truppen waren etwa bekannt dafür, ungern Gefangene zu nehmen. Entsprechend sank ihre eigene Überlebenswahrscheinlichkeit, sobald sie die Waffen niederlegten.

Auf politischer Ebene folgte aus der vagen Botschaft, dass die Versorgungslage im russischen Zarenreich auch für Kriegsgegangene immer schlechter ausfalle, beispielsweise in Österreich-Ungarn dazu, dass man gegenüber russischen Kriegsgefangenen die – im Vergleich zu Deutschland wohl ohnehin geringer ausgeprägten – Hemmungen ihnen gegenüber fallen ließ und sie unter übelsten, sklavereiartigen Bedingungen hielt.

Wem die Flucht gelang: die Schweiz empfing

Die entsprechend austarierte Gegenseitigkeit unterband, jedenfalls abseits der Fronten, immerhin unberechenbare private Gewaltausübung und erhöhte die Chancen, den Krieg zu überleben, selbst auf der Flucht.

Aufnahme boten neutrale Länder wie Dänemark oder die Niederlande. Rund 3.000 russischen Kriegsgefangenen aus Deutschland und Österreich-Ungarn gelang die Flucht in die Schweiz, zumeist blutjunge Männer von Anfang 20, die in diesem traditionellen europäischen Exilland freundlich empfangen wurden, bis die sogenannte Oktoberrevolution in Russland schlagartig zu bizarren Überfremdungsängsten in der Schweiz führte.

Einen solchen Entflohenen ohne Schuld getötet zu haben, attestierte das Reichsgericht am 21. Mai 1917 dem zu Köslin angeklagten Jäger und Soldaten. Zwanzig Jahre später sollte dergleichen nicht einmal mehr verhandelt werden.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Umgang mit Kriegsgefangenen: . In: Legal Tribune Online, 21.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22984 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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