So verroht, zu denken, dass man bedenkenlos auf fliehende Menschen schießen dürfe, war man selbst im Krieg nicht – jedenfalls im Ersten Weltkrieg. Ein Fall aus der preußischen Provinz erinnert an ein weithin vergessenes Kapitel.
Mit Urteil vom 21. Mai 1917 entschied das Reichsgericht in der Sache eines Mannes, der einen russischen Kriegsgefangenen tödlich verletzt hatte (Az. III 412/17, Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Band 50, S. 417–420).
Das Landgericht Köslin hatte den Angeklagten deswegen verurteilt: Auf der Jagd – nicht auf Menschen, sondern auf übliches Wild – war ihm eine Gruppe russischer Kriegsgefangener begegnet. Nach vergeblicher Aufforderung, sich ihm zu stellen, schoss er dem Tatopfer ins Bein. Gegen seine Absicht traf er nicht den Unter-, sondern mit dem Oberschenkel "einen edleren Körperteil". Dieser Verletzung erlag der russische Kriegsgefangene.
Der Jäger berief sich zu seiner Verteidigung darauf, dass ihm – zum Tatzeitpunkt als Soldat beurlaubt – "während seiner Zugehörigkeit zum Feldtruppenteil" ein dienstlicher Befehl bekannt gemacht worden sei, feindliche Soldaten zu stellen. Nach den Ermittlungen des Kösliner Gerichts zu Unrecht: "Die Strafkammer verneint das Vorliegen eines Dienstbefehls, nach dem auch Soldaten, die sich auf Urlaub befänden und weder mit dem Dienstanzug bekleidet noch mit dem Dienstgewehr ausgerüstet seien, auf fliehende Kriegsgefangene zu schießen hätten."
Fahrlässiger Irrtum entschuldigt nicht
Das Landgericht billigte dem Angeklagten zwar zu, sich wegen seiner Vorstellung vom Befehl, auf fliehende Gefangene zu schießen, in einem Irrtum nach § 59 Absatz 1 a.F. Strafgesetzbuch (StGB) befunden zu haben: "Wenn Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen."
Wegen der zweifelhaften Umstände, ob dies auch im Urlaub, ohne Uniform und mit privater Waffe gelte, sei er aber verpflichtet gewesen, sich über den Inhalt des Befehls unterrichten zu lassen. Diese Pflichtverletzung führe, so die Strafkammer, zum Ausschluss des Irrtumprivilegs aus Absatz 1: "Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntniß selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet ist" (§ 59 Abs. 2 a.F. StGB).
Reichsgericht in Leipzig sieht das anders
Mit diesem Urteil verfuhr das Reichsgericht unfreundlich. Sogar sehr unfreundlich, gemessen an den üblichen Signalvokabeln, mit denen Revisionsrichter zeigen, dass sie jenes höfliche Etepetete verlassen, indem sonst die höfliche Zensur unter Kollegen erfolgt. Zunächst drückte das Reichsgericht sein Missfallen darüber aus, überhaupt an die tatgerichtliche Feststellung zur fehlenden Befehlslage gebunden zu sein ("Hierin mag sich eine […] tatsächliche Feststellung aussprechen, die den Revisionsrichter bindet.").
Im Anschluss halten die Reichsgerichtsräte den Richtern am Landgericht Köslin vor, den Begriff der Fahrlässigkeit verkannt zu haben: Vorauszusetzen seien "das Außerachtlassen einer Pflicht und die Vorhersehbarkeit des dadurch verursachten rechtsverletzenden Erfolges". Dabei müsse "die Vorhersehbarkeit spätestens im Zeitpunkt der Pflichtverletzung vorhanden sein".
Konkret: Seine Pflicht, sich über den Umfang des Befehls Klarheit zu verschaffen, auf fliehende Kriegsgefangene zu schießen, habe der Angeklagte allenfalls verletzt, als er sich noch an der Front befand. Daheim im Wald, die fliehenden Kriegsgefangenen vor Augen, habe er dieser Erkundigungspflicht nicht mehr nachkommen können. Darum bestehe kein Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Taterfolg.
Das Reichsgericht sprach daher – gegen den Antrag der Reichsanwaltschaft, das Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen – schließlich einen Freispruch aus.
Wehrlose Menschen stehen grundsätzlich unter Schutz
Gemessen an der weitgehenden Verrohung, die den Umgang insbesondere mit russischen und ukrainischen Kriegsgefangenen sowjetischer Staatsangehörigkeit im Zweiten Weltkrieg prägte, vom millionenfachen Hungertod in den Lagern der Wehrmacht bis zu Ereignissen wie der "Mühlviertler Hasenjagd", mag es Wunder nehmen, dass die Tötung eines russischen Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg überhaupt zu einem Verfahren in Köslin und Leipzig führte – frei nach dem bösen Wort des Göttinger Physikprofessors Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), das sich wohl auf Höchstrichter verschiedener Epochen mit Blick aufs Fall-Gut übertragen ließe: "Als er eine Mücke ins Licht fliegen sah, und sie nun mit dem Tode rang, so sagte er: hinunter mit dem bitteren Kelch, du armes Tier, ein Professor sieht es und bedauert dich."
Für den Ersten Weltkrieg war die seelische Verrohung, die in Gedankenspielen liegt, es sei richtig, wenn nicht sogar geboten auf wehrlose Menschen zu schießen, solange sich in deren Dasein auf freiem Fuß nur irgendeine Rechtsgutsverletzung entdecken lasse, noch nicht zum schulterzuckend hingenommenen Fatum geworden.
Zu dieser Wertung ist freilich auf Umwegen zu kommen. Reichsgerichtsentscheidungen sind in der sogenannten amtlichen Sammlung bekanntlich meist nur sehr knapp dokumentiert. Es lässt sich aber plausibel vermuten, dass sich die Tötung des russischen Kriegsgefangenen in einem der reichen Wälder ereignete, die im Südosten des Landgerichtsbezirks Köslin zu finden waren – und noch heute zu finden sind, auch wenn die Stadt heute polnisch Koszalin heißt.
Dort, bei der Gemeinde Hammerstein, heute Czarne, wurde in beiden Weltkriegen ein großes Kriegsgefangenenlager geführt. Im Ersten Weltkrieg waren hier vor allem russische Soldaten untergebracht, die durch die militärischen Erfolge des späteren Reichspräsidenten Hindenburg – trotz seiner überschaubaren geistigen Fähigkeiten zum "Helden von Tannenberg" propagiert – in Gefangenschaft geraten waren.
Martin Rath, Umgang mit Kriegsgefangenen: . In: Legal Tribune Online, 21.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22984 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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