3/3: Demut statt seelischer Erhebung
Der Klerus sah sich durch die Lehren der Katharer, nach denen der Zehnt, die Heiligenverehrung und die zur Akquisition von Touristen-Mitteln wichtigen Wallfahrten – man denke hier nur an den Zirkus des heutigen Jakobswegs –theologisch abzulehnen seien, in seiner wirtschaftlichen Subsistenz bedroht.
Zur Ermittlung der Ketzer bediente man sich des neuartigen Amtsermittlungsgrundsatzes, war das hergebrachte "Strafrecht" doch eher talionisch auf materiellen Schadensausgleich bedacht gewesen.
Den Kreis der Verdächtigen und Schuldigen erweiterte die Inquisition durch das Prinzip, auch derjenige, der einen Ketzer in seinen Reihen dulde, mache sich schuldig – ein Grundsatz, den 1979 noch der Beklagte im Fall des häretischen Dozenten an der Jesuiten-Hochschule beherzigte.
Inquisitoren wie Bernard Gui (1261–1331) – landläufig bekannt als fieser Charakter in Umberto Ecos "Der Name der Rose" – publizierten Handbücher mit Basiswissen zur Subsumtion verdächtiger Vorgänge, gleichsam eine Frühform des "Kurz-Kommentars" und "Formularhandbuchs". Wirtschaftlich am Laufen gehalten wurde der Inquisitionsbetrieb nicht zuletzt durch die Enteignung des Ketzer-Eigentums zugunsten der Strafverfolgungsbehörde. Die Reformation beförderte noch den Übergang dieser regulativen Programme auf den frühmodernen Staat.
Reformationsfeiertag: Seelische Erhebung?
Sowohl dem katholischen Geistlichen und Historiker Walter Kardinal Brandmüller (1929–) als auch einer halbamtlichen Stelle des Freistaats Thüringen (1990–), also sozusagen amtlich von Thron und Altar, ist die Auskunft zu verdanken, dass es sich bei Martin Luther (1483–1546) um einen Ketzer gehandelt habe, der vom seinerzeit geltenden staatlichen Strafanspruch bedroht gewesen sei.
Aus Artikel 139 der Reichsverfassung von 1919, der nach Artikel 140 Grundgesetz geltendes Verfassungsrecht ist, lässt sich schließen, dass am heutigen 31. Oktober 2017 erstmals "ganz Deutschland" – die "Bild-Zeitungs"-Phrase trifft hier ausnahmsweise zu – aufgerufen ist, den Reformationstag zur "seelischen Erhebung" zu nutzen.
Man muss wohl kein verstockter Katholik oder Agnostiker sein, um sich vom heutigen Thesen-Anschlagstag nicht seelisch erhoben zu fühlen. Martin Luthers Hauskirche tat ihr Übriges, indem sie die selbst für Atheisten theologisch nur schwer kommensurable Pastorin Margot Käßmann (1958–) zur Luther-Jahr-Beauftragten erhob.
Doch selbst wenn man in einem Luther nur den hervorragenden Lieder-Dichter sieht, ihn aber als Judenhasser und mit Kurt Flasch als reaktionären Theologen ablehnt, möchte man am heutigen Tag vielleicht etwas Demut gegenüber Menschen aufbringen, die für ihre "aA" wirklich ihr Leben riskieren, so obskur sie uns auch erscheinen mag.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Ketzerei: . In: Legal Tribune Online, 31.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25315 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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