Formosus, Cromwell und Dollfuß: Tote vor Gericht ges­tellt

von Martin Rath

10.04.2020

Es scheint eine makabre Idee zu sein, über Verstorbene symbolisch Gericht zu halten. Fremd ist sie der Rechtsgeschichte aber nicht. Das Leichengericht feiert als eher harmlose literarische Methode zudem 2020 fröhliche Urständ, berichtet Martin Rath.

Die Anwesenheit des Angeklagten in der Verhandlung dürfte selten in einem schlechteren Geruch gestanden haben als bei dem Strafgericht, das Papst Stephan VI. im Jahr 897 seinem Vor-Vorgänger Formosus angedeihen ließ.

Der Geistliche Formosus hatte sich während seiner Karriere in den undurchsichtigen Konflikten seiner Epoche wiederholt auf der falschen Seite der Macht befunden. Das heute wohlgeordnete Kirchenrecht stand noch in den Kinderschuhen und war eine weitere Quelle zahlloser Streitigkeiten. Die Wahl des Papstes wurde gelegentlich im Tumult der römischen Bevölkerung, des örtlichen Adels bzw. der regionalen Bischöfe ausgekämpft – mit mehr oder weniger starkem Einfluss auswärtiger Fürsten.

Während heute Can. 332 § 1 Codex Iuris Canonici (CIC) die langjährige Übung dokumentiert, dass der Papst zuvor bereits als Bischof in einer anderen Stadt amtiert hat, war es seinerzeit sehr fraglich, ob der Wechsel von einem anderen Bischofs- in das Papstamt möglich ist. Eine normative Idee ging damals nämlich davon aus, dass ein Bischof mit seinem Amt verheiratet sei. Von einem Bischofsamt in das andere zu wechseln, kam damit einem Ehebruch gleich. Dieses kirchenrechtliche sogenannte Translationsverbot stand im Fall Formosus im Streit.

Ein Mann ist mit seinem Amt verheiratet

Dass Formosus (ca. 816–896) zuvor Bischof der Stadt Porto bei Rom gewesen war, konnte ihm also zum Vorwurf gemacht werden – in den pragmatischen Zeiten eines Kirchenrechts in Kinderschuhen konnte man das aber auch bleiben lassen. Papst Stephan VI. ließ es sich jedoch nicht nehmen, Formosus vor ein Gericht zu stellen, das als "Leichensynode" in die Kirchengeschichte eingegangen ist.

Die Anklage gegen den verstorbenen Papst fasst die Potsdamer Historikerin Marie-Luise Heckmann (1962–) mit "Eidbruch, unerlaubte Ausübung priesterlicher Funktionen und Übertretung des Translationsverbots für Bischöfe, also … Amtsanmaßung" zusammen, nachzulesen in ihrem Aufsatz "Der Fall Formosus. Ungerechtfertigte Anklage gegen einen Toten, Leichenfrevel oder inszenierte Entheiligung des Sakralen?" (2012).

Vor allem der Termin bei Gericht ist als anrüchig überliefert: Papst Stephan VI. hatte die "halb verweste Leiche seines Vorgängers aus ihrem Sarg holen und vor die Synode bringen lassen. Nun wurde sie mit dem päpstlichen Ornat bekleidet und auf den Papstthron der Kirche gesetzt, so als wäre Formosus noch am Leben" (ebd.).

Nicht im Kirchenrecht verankert: Schändung von Reliquien

Es blieb nicht bei der Annullierung der von Formosus vorgenommenen Amtshandlungen. Vielmehr wurde das Urteil – um Heckmann ausführlich zu zitieren – wie folgt vollstreckt:

"Die Leiche wurde zunächst vom päpstlichen Thron gezerrt. Man riss ihr sodann die Kleider bis auf ein Hemd vom verwesenden Leib und zog ihr stattdessen Laientracht an. Nun schnitt man ihr mehrere Finger der rechten Hand ab, schleifte den verstümmelten und entehrten Körper aus der Kirche und verscharrte ihn schließlich auf dem Friedhof für die Fremden. Später ließ Stephan den Leichnam sogar noch einmal aus dem Grabe reißen und dann in den Tiber werfen. Der Verstorbene soll allerdings vom Fluss wieder ans Land gespült und dort von einem frommen Mönch heimlich bestattet worden sein."

Heckmann interpretiert den Umgang mit der Leiche als ein "Umkehrritual zur im Frühmittelalter üblichen Papsterhebung und zur zeitgenössischen Reliquienauffindung, -erhebung und -überführung".
Heute finden sich z.B. in den "Ausführungsbestimmungen zum Umgang mit Reliquien im Erzbistum Köln" ausführliche Regelungen zu den Überresten heiliger Körper. Die Negation der Reliquienproduktion durch ihre Schändung mittels umgekehrter Verehrungsschritte ging glücklicherweise nicht ins Kirchenrecht ein.

Cromwells postmortale Hinrichtung

Wer meint, das Ganze sei nur eine anrüchige Übung ohnehin obskurer Katholiken gewesen, wird enttäuscht sein, denn auch der moderne Parlamentarismus begann mit einem Leichengericht.
So wurden die Überreste des englischen Unterhaus-Abgeordneten Oliver Cromwell (1599–1658), der seit 1653 als Staatsoberhaupt des republikanischen "Commonwealth of England" firmiert hatte, am 30. Januar 1661 – zwölf Jahre nach der Enthauptung von König Charles I. – exhumiert und einem postmortalen Hinrichtungsritual unterzogen. Den Körper des Königsmörders ließ man in Tyburn in Ketten aufhängen, Cromwells Kopf wurde 24 Jahre lang vor dem Parlamentsgebäude in Westminster zur Schau gestellt.

Ein Ex-Diktator wird wieder zum Leben erweckt

Ein deutlich weniger anrüchiges Leichengericht imaginiert der österreichische Jurist und Historiker Werner Anzenberger (1962–) für seinen Landsmann Engelbert Dollfuß (1892–1934). Unter dem Titel "Plädoyer eines Märtyrers. Eine Groteske" lässt Anzenberger den zwischen 1932 und 1934 zunächst regulär, dann diktatorisch regierenden Bundeskanzler der Republik Österreich in einem sehr ausführlichen Plädoyer zu Wort kommen – in diesem literarischen Rahmen:

"Im Jahr 2020, sechsundachtzig Jahre nach dem Aufstand im Februar 1934 gegen die sich verfestigende Diktatur, wird der Bundeskanzler dieser Zeit, Engelbert Dollfuß, aus seinem 'historischen Grab' in Wien-Hietzing exhumiert. Man setzt ihm ein selbstheilungskräfteaktivierendes, linksgedrehtes Licht-Stammzellenpflaster einer lebensberatenden Verganzheitsmedizinerin exakt an jene Stelle, an der einst die Zirbeldrüse gesessen sein mag. Dann stellt man ihn vor Gericht."

Um Eckdaten zu Dollfuß zu nennen: Der deutschnationale, katholische und antisemitische Bundeskanzler hatte seit Oktober 1932 versucht, mit Hilfe des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes aus dem Jahr 1917 zu regieren, zuerst übrigens aus Gründen der Bankenrettung. Durch ein Geschäftsordnungsproblem war der Nationalrat seit dem 4. März 1933 handlungsunfähig – die erneute Versammlung des Parlaments unterband die Regierung mit Gewalt.

Richter sabotieren Verfassungsgerichtshof

Der Verfassungsgerichtshof wurde derweil zerstört, indem Dollfuß' Parteigänger unter den Richtern ihn arbeitsunfähig machten. Erklärtes verfassungspolitisches Ziel war die Errichtung eines Ständestaats, vorgeblich nach weltanschaulichen Prinzipien, die Papst Pius XI. in seiner Enzyklika "Quadragesimo anno" 1931 verkündet hatte. Bis zur Weihnachtsbotschaft 1944, US-Panzer in der Stadt, waren die römischen Bischöfe jedenfalls keine Freunde der parlamentarischen Demokratie.

Auf das Verbot des Republikanischen Schutzbundes, eines paramilitärischen Verbands der österreichischen Linken, und der Kommunistischen Partei folgten Maßnahmen gegen die an Mandaten und insbesondere in der Wiener Kommunalpolitik starke Sozialdemokratie. Seit dem 10. November 1933 galt nach rechtsterroristischen Anschlägen das Standrecht mit Todesstrafe, das u.a. an neun sozialdemokratischen Funktionären exekutiert wurde, als es im Februar 1934 in Österreich zu einem sogenannten Bürgerkrieg – Widerstand gegen Dollfuß – kam.

Ein Leichengericht klagt Dollfuß an

Vor dem literarischen Leichengericht angeklagt u.a. wegen vielfachen Mords, Hochverrat, Nötigung der Gerichte lässt Anzenberger – der  unter dem Pseudonym Peter Veran schreibt – seine Dollfuß-Figur eine ausführliche Apologie vortragen. Der Rahmen des österreichischen Strafprozessrechts – acht Geschworene, drei Berufsrichter – bleibt dabei weitgehend im Hintergrund. Freilich spricht Dollfuß die Vorsitzende Richterin im öligen Charme seiner Heimat regelmäßig mit "Frau Rat" an.

In dieser Erzählform präsentiert wird ein Kapitel der Politik- und (Verfassungs-) Rechtsgeschichte Österreichs aus der Perspektive des oft larmoyanten, manchmal ironischen, gerne rachsüchtigen Angeklagten Dollfuß. So erklärt sich Dollfuß beispielsweise ausführlich zur Hinrichtung des sozialdemokratischen Politikers Koloman Wallisch (1889–1934), zu deren Zweck – ungeachtet schweigender Waffen – das Standrecht bis zur Ergreifung dieses inneren Feindes verlängert worden war.

Anzenbergers Methode, Geschichte zu erzählen, verstärkt den Eindruck, wie stereotyp die Behauptung des drohenden Staatsnotstands – verursacht u.a. durch die vermeintliche Revolutionsneigung der kreuzbraven Sozialdemokraten – dazu diente, einen liberalen Rechtsstaat zu beseitigen.

Henker hat Probleme mit dem Galgen

Zugleich wird die schiere emotionale Verrohung des zum Diktator heranwachsenden Angeklagten Dollfuß demonstriert: Seit der Abschaffung der Todesstrafe in Österreich im Jahr 1919 war der Würgegalgen außer Gebrauch gekommen. Der aus einer k.u.k. Scharfrichterdynastie rekrutierte Henker tat sich 1934 zunächst schwer, ihn wieder effektiv zu nutzen. Seit Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" wurde das makabre Finale eines gemütlich-rachlüsternen Feindstrafrechts selten derart makaber vorgeführt, hier durch Dollfuß' Brille.

Die rustikale Form der postmortalen Rechtspflege, die von vatikanischen Kirchenjuristen im Jahr 897 geübt und von der englischen Justiz im Fall des Königsmörders Cromwell im Jahr 1661 wieder aufgegriffen wurde, entspricht glücklicherweise nicht mehr dem zivilisatorischen Niveau. Gutachten oder Richtlinien zur Zulässigkeit der Folter zu schreiben, das ist noch möglich. Aber an Leichen vergreift man sich – wenngleich manchmal nur mit eigenartigem Räsonnement – nicht mehr.

Das "Plädoyer eines Märtyrers" hält genug Abstand von den anrüchigen Vorbildern der postmortalen Rechtspflege, nutzt den Einfall aber geschickt, die groteske Verteidigungsrede eines zum Diktator gewordenen Bundeskanzlers zu inszenieren. Psyche und Praxis einer solchen Figur einmal zusammen vorgeführt zu bekommen, hat bei Licht besehen auch genügend makabre Züge.

Peter Veran [d.i. Werner Anzenberger]: Plädoyer eines Märtyrers. Eine Groteske. Wien (Promedia) 2020. 176 Seiten, 17,90 Euro.

Zitiervorschlag

Formosus, Cromwell und Dollfuß: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41269 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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