2/2: Auf dem Weg zu einer anderen Dritten Gewalt?
Wagner schlägt zurecht und erhellend den großen Bogen vom (Sub-) System Justiz zur überwölbenden Gesellschaft: Die ideologischen Kämpfe sind ausgefochten, wenn nicht einmal das Ende der Kernkraft umstritten ist; es herrscht die Konsensgesellschaft, von Pragmatismus beseelt und auf der ewigen Suche nach gütlichen, für alle Beteiligten akzeptablen Lösungen. Hier führt, ohne dass Wagner diese Zusammenhänge allerdings detailliert ausformulieren würde, eine gedachte Linie direkt von einer entpolitisierten Bundeskanzlerin (mit ihrer Strategie der "asymmetrischen Demobilisierung") zu einem konsensorientierten Strafrichter, der mit dem Angeklagten die akzeptable Strafe aushandelt. Im Kern geht es um die Frage: Welche Rechtsprechung will die Gesellschaft? Soll aus Macht Konsens werden? Wollen wir tatsächlich wegen ungelöster Binnenprobleme der Justiz Richter und Parteien, Richter und Rechtsbrecher auf Augenhöhe verhandeln lassen? Als massenhaft auftretendes Phänomen wäre dies nicht eine Änderung unter vielen, sondern ein Wandel hin zu einer anderen Dritten Gewalt, letztlich zu einem anderen Rechtsstaat.
Löst man sich als Richter von dem Reflex, dass Wagners Bild zu negativ sei, weil doch "im Grunde" die Justiz funktioniert, lässt sich das Buch mit Gewinn lesen, weil es Schlaglichter auf viele Bereiche wirft, in denen Verbesserungen nötig sind – und auch erzielbar wären. Vielleicht gibt es ja noch Freiexemplare für die Justizminister, auch wenn die nicht mehr zu den Schwergewichten in der jeweiligen Regierung zählen.
Wagner lebt die Redundanz vor, die er beklagt
Schön an Wagners Buch ist, wie die fleißig ermittelte empirische Basis zwar akribisch ausgewertet wird, aber immer auch individuelle Stimmen einfließen, sodass in der Flut an Zahlen auch Menschen erkennbar werden. Es hätte dem Buch allerdings gutgetan, wenn es prägnanter geworden wäre, mit einer Gliederung, die wirklich orientiert, und einer Gedankenführung, die präzise auf den Punkt zielt. Auch muss nicht jede unstrittige Feststellung mit dem Zitat eines Gerichtspräsidenten belegt werden. So liest man sich, da alles mit allem zusammenhängt, durch diverse Redundanzen.
Und so ist es am Ende feine Ironie dieses insgesamt erfreulichen Buches, wie Wagner seine Thesen ungewollt selbst beweist: Er stellt die übervorsichtigen Richter dar, indem er jede Randbemerkung mit Zahlenkolonnen belegt; er moniert fehlende Effizienz, und wiederholt das mehrfach; und er schreibt, dass Urteile kürzer ausfallen könnten – in einem "Fazit", das auf gepflegte 40 Seiten kommt. Und damit ist es nachgewiesen: So sind sie also offenbar wirklich, diese Juristen – gerne auf Sicherheit bedacht und leicht bis mittelschwer redundant.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht München.
Rezension zu Joachim Wagners "Ende der Wahrheitssuche": . In: Legal Tribune Online, 04.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22271 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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