Rezension zu Joachim Wagners "Ende der Wahrheitssuche": Wahr­heit am Ende?

von Dr. Lorenz Leitmeier

04.03.2017

"Ende der Wahrheitssuche" heißt das neue Buch des Justizjournalisten Joachim Wagner. Lorenz Leitmeier ist selber Richter, und findet darin viele Wahrheiten über seinen Berufsstand – aber auch die gleichen Schwächen.

Wer wie der Rezensent Mitte der 1970er Jahre geboren ist, wurde mit dem Journalisten Joachim Wagner politisch erwachsen – in einer Zeit, die postmodern war, nicht postfaktisch; in der es noch ewige Gewissheiten gab in Gestalt von Bundeskanzlerhelmutkohl und Papstjohannespauldemzweiten.
Ist man dann gut 30 Jahre später Richter und liest ein Buch des promovierten Juristen Wagner, das den Zustand der Justiz 2017 beleuchtet und "Ende der Wahrheitssuche" heißt, ist man gespannt: Gibt es die Rechtsprechung, wie man sie seit jeher kannte und selbst unhinterfragt praktizierte, (bald) nicht mehr? Hält der markige Titel, was er verspricht?

Postfaktische Rechtsprechung?

Dem Problem von Fehlentwicklungen in der Justiz, insbesondere einer Abkehr von der traditionellen, auf Wahrheitsermittlung gerichteten Rechtsprechung, kann man sich rechtstheoretisch nähern wie Fischer ("Der Deal zerstört das Recht"), oder gewissermaßen induktiv durch Verallgemeinerung von (wenigen) Fällen wie Blüm ("Einspruch"), oder aber empirisch: Wagner führte zweieinhalb Jahre lang Gespräche mit knapp 200 Richtern und Staatsanwälten sowie 90 Rechtsanwälten, und machte diese umfangreichen Daten zur Basis eines fundierten Berichts über den aktuellen Zustand der Justiz. Als Quintessenz seiner Recherche formuliert er: Durch die hohe Belastung von Richtern und Staatsanwälten sowie einen Einstellungswandel der Gesellschaft werde die traditionelle Rechtsprechung zunehmend durch einvernehmliche Konfliktlösung ersetzt.

Viele Eigenheiten und Probleme in der Justiz, die Wagner aufzeigt, sind nicht neu, werden aber, anders als bei vielen Pauschal-Lamentos, mit einer rauen Menge an Zahlen und differenziert nach Gerichtszweigen sowie Bundesländern belegt.

Beamtenmentalität trifft Elitendenken

Seine auf insgesamt 270 Seiten verteilten Kernthesen zur Krise der Justiz lassen sich in etwa wie folgt umreißen:

Für die Juristen in der Justiz gibt es wenige Beförderungsstellen, vor allem für Richter über 50; dies senkt die Motivation erheblich, die sich irgendwann auf "Freiheit und Freizeit" beschränkt; die Besoldung ist, gemessen an den hervorragenden Examensnoten, wenig attraktiv; die Arbeit ist zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht, und innerhalb der Gerichte, ungleich verteilt; der Erledigungsdruck ist gestiegen; Binnenreserven der Justiz bleiben ungenutzt, auch deshalb, weil sich gute Arbeit "nicht lohnt"; der Anteil der Frauen ist erheblich gestiegen ("Feminisierung der Justiz"), was zu Organisationsproblemen führt in Form von Teilzeitarbeit, Ausfallzeiten wegen Schwangerschaft, häufigen Richterwechseln auf dem Referat; in der Justiz herrscht Beamtenmentalität, destruktiv gepaart mit Elitedenken; die richterliche Unabhängigkeit verhindert, dass eine wirksame Dienstaufsicht leistungsschwache oder –unwillige Richter beeinflussen kann; die Justiz wird von der Politik und der Gesellschaft in vielen Bundesländern nicht wertgeschätzt, zuweilen "kaputtgespart"; Richter leben in einem eigenen Kosmos ohne Rückbindung an die Gesellschaft und ohne Sinn für deren "wirkliche" Probleme; über die Entfernung unfähiger oder unwilliger Richter aus dem Dienst entscheiden Richter, die das aber häufig aus Korpsgeist ablehnen, und auch den Straftatbestand der Rechtsbeugung absurd hoch gehängt und damit unanwendbar gemacht haben.

Als Lösungsvorschläge formuliert Wagner: Der Anteil von Frauen in der Justiz sollte die 70-Prozent-Grenze nicht überschreiten, die Justizjuristen könnten überobligatorisch 45 Stunden pro Woche arbeiten ("freiwilliges akademisches Übersoll") und müssten einen Mentalitätswechsel hin zu Dienstleistern vollziehen, und das Dienstaufsichtsrecht sollte gestärkt werden, um Minderleister aus der "Schutzzone" richterlicher Unabhängigkeit herausholen und disziplinieren zu können.

Zitiervorschlag

Rezension zu Joachim Wagners "Ende der Wahrheitssuche": . In: Legal Tribune Online, 04.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22271 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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