Die Vorstellung, dass Schaden durch magisches Handeln bewirkt werden könnte, war eine nicht nur in Europa, sondern auch in China einflussreiche Idee. In der Gegenwart wirkt sie als magisches Denken oder grausame Hexenfurcht nach.
In den Anfängerveranstaltungen für den juristischen Nachwuchs hat die Hexe bestenfalls einen Gastauftritt. Zwar erfährt er in Deutschland an der Hochschule gerade noch, dass sich die Grundsätze des heutigen Strafprozessrechts im Wesentlichen dem historischen Inquisitionsprozess zu verdanken sind – der seine Leistungsfähigkeit zunächst darin beweisen musste, ob er für die Verfolgung staatsgefährdender Ketzer und Hexen taugte.
Dass aber beispielsweise auch die Kausalitätslehren des Straf- und Zivilrechts einst etabliert wurden, um ein "Vernunft" genanntes Denken gegen die Vorstellung ins juristische Feld zu führen, dass Hexer und Hexen durch magisches Tun einen tatbestandlichen Erfolg in der physischen Welt bewirken könnten – davon besteht eine bestenfalls blasse Vorstellung.
Kurz gesagt: Angehende Juristen lernen etwa mit dem "Allgemeinen Teil" der Rechtsgebiete zwar Vernunftwerkzeuge kennen, die ihre aufgeklärten Vorgänger im 17. bis 19. Jahrhundert entwickelt haben. Worin aber die Unvernunft oder die gelehrte Paranoia ihrer frühmodernen Kollegen bestanden, erfahren sie selten.
Wie mächtig bis heute die Vorstellung ist, dass magische Praktiken bestraft oder anderweitigsanktioniert werden müssten, berichtet beispielsweise die deutsche Ethnologin Heike Behrend (1947–) in ihrer Forschungsbiografie "Menschwerdung eines Affen" (2020). Der Furcht vor Hexerei begegnete Behrend u. a. in Uganda, wo das "Holy Spirit Movement" seit den 1980er Jahren eine veritable militärisch-politische Bewegung bildete und moderne Hexenjäger auf den Plan traten.
Nicht nur die Ethnologin zeigt, dass sich die einschlägigen Vorstellungen ernstnehmen lassen, ohne die Menschen bloßzustellen, die ihnen anhängen. Auch die deutsche Justiz wird mit ihnen konfrontiert – sei es, dass Flüchtlinge sich lebhaft von magischen Praktiken in ihren Heimatländern bedroht fühlen (Oberverwaltungsgericht NRW, Urt. v. 17.01.2013, Az. 19 A 591/09.A), sei es, dass Zeuginnen nigerianischer Herkunft sich in Deutschland womöglich an magische Schwüre gebunden sehen (Landgericht Duisburg, Urt. v. 27.01.2020, Az. 32 KLs 8/18). Das Europäische Parlament hat sich sogar bereits recht systematisch mit spezifischen Folgen heutiger Hexerei-Vorstellungen befasst.
Hexerei-Recht im alten China: 100 Stockschläge für den Meistermagier
Während Menschen afrikanischer Herkunft vermutlich nicht selten dem Vorwurf begegnen, hierin einfältig oder abergläubisch zu sein – mit dieser Perspektive räumt Behrend auf und illustriert zugleich, wie intellektuell beschränkt bloßmoralisierende "Postcolonial Studies"-Anhänger sind –, erfahren hierzulande die Methoden der sogenannten "Traditionellen Chinesischen Medizin" erheblichen Zulauf und mitunter Anerkennung durch die staatlich veranstalteten deutschen Krankenversicherungen.
Gemessen daran ist es seltsam, dass das historische chinesische Recht zu Fragen der Magie kaum erforscht und allgemein wenig bekannt ist – und das, obwohl die einschlägigen strafrechtlichen Regelungen über mehrere Jahrhunderte vom chinesischen Staat in wechselhafter Weise angewendet wurden: Bis zum Ende der Quing-Dynastie im Jahr 1911 blieben sie dem materiellen Strafrecht Chinas erhalten.
Die überlieferten Rechtsfälle und -regeln haben oft einen herben Charme. Dieser Reiz rührt u. a. daher, dass chinesische Juristen vielfach bereits früh überzeugt waren, dass Zauberei keine direkten kausalen Wirkungen habe, sie ihre Strafpraxis aber trotzdem nicht allein von dieser "vernünftigen" Einsicht leiten ließen.
Der Sinologe Xiaohuan Zhao gibt in seiner einführenden Darstellung zu "Sorcery Crimes, Laws, and Judicial Practice in Traditional China" viele Fallbeispiele wieder.
Recht modern wirkt etwa die Weltsicht von Hu Shibi, eines "konfuzianisch gelehrten Justizbeamten" aus der Epoche der Song-Dynastie (1127–1279), der nicht daran glaubte, dass schwarze Magie durch übernatürliche Kräfte zu Krankheit oder Tod führen könne.
Als ein Bezirksschullehrer den im Amtssprengel Hus tätigen "Meistermagier" Huang beschuldigte, seinen Vater mit Zaubersprüchen krank gemacht zu haben, lehnte es der Richter ab, gegen Huang wegen des Schadenszaubers zu ermitteln. Weiterhin ordnete Hu an, den Anzeigeerstatter aus dem Dienst zu entfernen, weil es für einen konfuzianisch gebildeten Lehrer unwürdig sei, dem Aberglauben an übernatürliche Kräfte anzuhängen, statt nach den natürlichen Ursachen für die Krankheit des Vaters zu suchen.
Den Meistermagier Huang ließ Richter Hu gleichwohl nicht weiter wirken: Zwar habe der sich nicht der magischen Verfluchung schuldig gemacht, aber doch eine Zauberei praktiziert, die geeignet sei, "die Öffentlichkeit zu verwirren". Weil Huang Opfer praktiziert habe, die im amtlichen Register für Opferrituale nicht vorgesehen waren, wurde er zu 100 Schlägen "mit einem leichten Stock" bestraft und in eine andere Präfektur verbannt.
Zauberwürmer erforschen oder Leichenschändung?
Ein interessantes Wechselspiel von Klage und Widerklage ist für einen Fall aus dem Jahr 460 dokumentiert: Ein Mann namens Tang litt nach einem Besuch bei der Verwandtschaft an starken Bauchschmerzen. Dem Ermittlungsbericht zufolge erbrach er zehn Würmer, die gemeinhin als zauberwirksam bekannt waren. Bevor er starb, bat Herr Tang seine Gattin noch, ihm posthum den Bauch zu öffnen, um herauszufinden, welche Art von magischen Würmern seinen Tod bewirke.
Nachdem die Verwandten auf Grundlage dieses Befundspostmortem von Sohn und Witwe des mutmaßlich zauberisch Gemeuchelten verklagt worden waren, reagierten sie mit einer Widerklage, weil private Leichenöffnungen – nicht zuletzt wegen der magischen Qualität menschlicher Überreste – verboten waren.
Das Verfahren endete nach einem gelehrten Meinungsstreit darüber, ob Sohn und Witwe wegen eines abscheulichen Umgangs mit der Leiche zu bestrafen oder vielmehr besonders dafür zu loben seien, weil sie ganz im Sinn des konfuzianischen Patriarchats wortgetreu den Anweisungen des am Zauberwurm sterbenden Familienoberhaupts gefolgt waren, durch Urteil des Kaisers – Witwe und Sohn wurden zum Tod verurteilt.
Die Fälle mögen nicht immer sehr appetitlich sein, die magierechtliche Dogmatik dahinter wirkt jedoch reizvoll. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986) hat in einem berühmten Beispiel für einen fiktionalen Lexikon-Text eine altchinesische Systematik für Tiere erfunden, die "sich wie folgt gruppieren; a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen."
In seiner 2015 veröffentlichten Darstellung zur Systematik von schwarzmagischen Verbrechen im historischen – aber erst am 1. Januar 1912 staatsrechtlich beendeten – alten China entfaltet sich beim Sinologen Xiaohuan Zhao eine ähnliche Imaginationskraft: Aus welchen Motiven bestrafte der chinesische Staat die weit verbreiteten magischen Künste des "wugu", die vom bösartigen Gebrauch menschlicher Bilder über Zaubersprüche und Flüche bis zur Produktion zauberwirksamer Substanzen aus pflanzlichen, tierischen und auch menschlichen Körperteilen reichten? Nach welchen Kriterien wurden sie von gelehrten Juristen des kaiserlichen Hofs oder in den Provinzen systematisiert? Was galt als bloß singulärer Fall, was als allgemeine magierechtliche Regel?
Vodoo und Globuli – magisches Denken beschäftigt die Gerichte bis heute
Die berühmte, aber doch nur von Borges erfundene chinesische Enzyklopädie wird nicht wenige Juristinnen und Juristen an den Besuch eines Repetitoriums erinnern – oder an andere Versuche, die heillose Unordnung der Weltnach begrenzt sinnvollen Ordnungsmustern zu sortieren.
Wie viel näher müsste ihnen erst recht Richter Hu stehen, der schon vor 800 Jahren selbst zwar nicht an die Wirkungsmacht von Schadenszauberei glaubte, den Magiermeister aber gleichwohl wegen Störung des öffentlichen Friedens mit 100 Schlägen mit dem leichten Stock– für die Qualität des Schlag-Werkzeugs gab es tatsächlich ein juristisches System – züchtigen ließ?
Wer zwar auf naturwissenschaftlicher Evidenz im modernen Recht beharrt, sich ihrer aber selten vergewissert, wirkt womöglich gar nicht so sehr viel "vernünftiger" als Richter Hu aus der fernen Song-Dynastie.
Schließlich ist magisches Denken auch kein Vorgang, der allein Kindern oder psychisch Kranken einerseits, Voodoo-gläubigen afrikanischen Flüchtlingen oder deutschen Akademikerinnen andererseits vorbehalten bliebe, die auf Waldorfschulen und Globuli schwören.
Über die Natur des Schadens beispielsweise, den ein in seiner Bürgerkriegsmontur fest verschnürter Polizist erleidet, wenn ein Demonstrant ihm nicht mehr als ein böses Wort an den Kopf wirft, strafbar nach § 185 Strafgesetzbuch, solltegründlich nachgedacht haben, wer magisches Denken nurbei irrenden oder irrsinnigen Anderen sehen will.
Einem forcierten Glauben etwa, dass das bloße Aussprechen guter oder böser Wörter unmittelbar positive oder negative Konsequenzen in der Welt bewirkt, hängen Kinder an und psychisch Kranke – aber er ist ebenauch ein Ausgangspunkt der aktuellen Bemühungen, das Sprachdesign des deutschen Staats zu verändern, frei nach dem Bekenntnis des französischen Philosophen Pierre Bourdieu (1930–2002): "Tatsächlich üben Worte eine typisch magische Macht aus: sie machen sehen, sie machen glauben, sie machen handeln."
Tipp: Der Aufsatz von Xiaohuan Zhao, Sorcery Crimes, Laws, and Judicial Practice in Traditional China, erschien im "Australian Journal of Asian Law" 2016, S. 1–21
Magisches Denken vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 28.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44376 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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