2/2: Heuchelei hinter dem Pflaster
Diese unmittelbar tödlichen Gifte sind als Gegenstand der Strafrechtspraxis eher selten geworden. Seit 2001 ist „E 605“ in der Europäischen Union verboten. Auf diese harmlose Aussage ist später noch einmal kurz zurückzukommen, weil sie ein bisschen geheuchelt ist. Zur feinen Heuchelei dieses Verbots führt ein kleiner Umweg über das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. Oktober 2010 (Az. Xa ZR 30/07).
Ein "Transdermales therapeutisches System zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte" stand hier mit Blick auf seine Patentfähigkeit im angemeldeten Produkt- und Produktionsdetail zur richterlichen Entscheidung.
Unter den "hochtoxischen phosphororganischen Nervengiften", für die hier ein Gegenmittel zum letztlich nichtig erklärten Patent angemeldet worden war, taucht hier unter anderem unser seit 2001 aus Landwirtschaft und Familiengarten, aus Mörderinnenküche und Suizidentenplänen verbanntes "E 605" auf, das Parathion.
Erklärungsbedürftig ist wahrscheinlich der Begriff "transdermales therapeutisches System". Viele Menschen nutzen dieses System, um sich Capsaicin auf Hexenschuss oder Rheuma-Gelenk zu kleben, ohne Gefahr zu laufen, sich diesen schmerzstillenden, aber höllisch scharfen Wirkstoff der Chili-Früchte in Augen oder Schleimhäute zu applizieren. Bekanntestes Beispiel für ein „transdermales therapeutisches System“ ist das Wärmepflaster – ein Laminat, das auf einer Seite schützt, auf der anderen Seite Wirkstoffe durch die Haut sickern lässt.
Geht Arbeitsschutz nicht anders?
Man könnte meinen, dass Menschen, insbesondere Arbeitnehmer, die in einem Betrieb tätig sind, in dem mit "hochtoxischen phosphororganischen Nervengiften" gearbeitet wird, Notfallsets zur raschen intervenösen Applikation der Gegengifte in Reichweite haben. Für den Arbeitsschutz haben Gewerkschaften lange genug gestreikt, Überwachungsbeamte lange genug gearbeitet. Ein Pflaster ist für die schnelle Darreichung konzipiert: Eine "E 605"-Vergiftung braucht, wie oben gezeigt, rund zwei Stunden. Die mit dem Parathion verwandten Giftgase Tabun und Sarin wirken binnen weniger Minuten tödlich.
Wo wäre also das wirtschaftliche Bedürfnis zu sehen, Anti-Nervengift-Pflaster zu entwickeln, zu produzieren und zu vertreiben? Ehrenwert mag das insoweit sein, als diese Gifte völkerrechtswidrig im Krieg eingesetzt werden, zuletzt wohl 2013 Tabun im sogenannten Bürgerkrieg in Syrien. Hilfe tut hier not. Fraglich allerdings, ob derlei Pflaster nicht bloß dem Selbstschutz soldatischer Kriegsverbrecher dienen.
Über diese möglichen Motive in jener Produktentwicklung, deren Patentschutz im BGH-Urteil vom 21. Oktober 2010 zur Entscheidung stand, soll hier nicht weiter spekuliert werden. Neben der militärischen Verwendung von Gegengiften wäre auch ein ziviler Bedarf in Betracht gekommen, der durch den weiten Gebrauch dieser hochtoxischen Substanzen in Weltregionen entsteht, in die man sie nicht gern unbedacht geliefert sieht: Cornelius Courts, lehrberechtigter Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rechtsmedizin an der Rheinischen Friedrich Wilhelms Universität Bonn, machte in seinem Blog "blooDNAcid" auf die weit verbreitete Verwendung der Pflanzenschutzmittel bei Selbsttötungen außerhalb der westlichen Länder aufmerksam, zum Beispiel:
"In Sri Lanka stieg die Suizidrate exakt mit der Einführung organischer Chlorine und Phosphate als Pestizide ab dem Jahr 1970 stark an. Einige Pestizide sind dabei so giftig, daß davon ein einziger Schluck, etwa 50 ml, bereits tödlich ist. So ein Tod ist übrigens keineswegs sanft und schmerzlos, sondern kann durch Krampfanfälle, Atemlähmung oder Organversagen eintreten."
E 605 & Co. – die sozialen Konsequenzen
Als Gegenmittel, jedenfalls gegen spontane, aus Verzweiflung geborene Selbsttötungen, werden in Sri Lanka verschließbare Boxen getestet, der Versuch läuft bis zum Jahr 2016. Wer dieser Tage über einem Beitrag des BGH-Richters Thomas Fischer für Die Zeit eine moralische Krise erlebt hat, mag das Posting von Cornelius Courts vielleicht als tröstenden Beleg dafür lesen, dass noch nicht alle Moral zum Teufel gegangen ist.
Für Europa ließe sich heute eine "Kriminalgeschichte des Parathions" möglicherweise schreiben, als die Geschichte eines Pflanzenschutzmittels, dessen Wirksamkeit am Menschen im sozialen Feld- und Selbstversuch ausgelotet wurde. Mehr als ein vager Beitrag zur E-Nummern-Phobie körnerliebender Kreise mag vom berüchtigten "E 605" nicht übrig geblieben sein.
Für eine weltweit abschließende Sozial- und Kriminalgeschichte der Substanz ist allerdings die Zeit nicht reif, u.a. wegen dieser gewohnheitsmäßigen kleinen Heuchelei: Als das Parathion 2001 für den europäischen Raum aus dem Geschäft genommen wurde, mischte der EU-Gesetzgeber gewohnheitsmäßig jenes Gran Bitterkeit bei, ohne das selbst kluge Entscheidungen nicht auskommen: Die Ausfuhr der Substanz über die EU-Außengrenzen betraf das Verbot seinerzeit nicht.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Giftrecht: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15640 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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