2/2: Heiße Luft? – 19 Entscheidungen in über 10 Jahren
Der Buchstaben- und Zahlensalat steht für insgesamt nicht mehr als 19 Gerichtsentscheidungen, beginnend mit einem Beschluss des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin vom 19. November 2004 (Az. 25 A 181.04) und vorläufig endend mit dem Urteil des Sozialgerichts (SG) Detmold vom 28. Oktober 2014 (Az. S 2 SO 103/12). Sie enthalten überhaupt die Wortfolge "Gender Mainstreaming". Gesucht wurde in einer unter Juristen für alltägliche Recherchebedürfnisse beliebten Datenbank, die ein großer rechtswissenschaftlicher Verlag pflegt.
In Worten: neunzehn Entscheidungen in gut zehn Jahren! Einerseits ist dies mehr ein Fingerzeig denn eine statistisch saubere Auskunft. Natürlich hängt die Aussagekraft der Ziffer "19" von der Mitteilungsfreude der Gerichte und der Aufnahmefreude der Datenbank-Redaktion ab. Andererseits ließe sich die Zahl sogar noch reduzieren: Das zuletzt genannte SG Detmold sinniert beispielsweise mehr allgemein und nicht entscheidungserheblich über die sozialpolitischen Moden der Gegenwart: "Der Ganztag trägt dazu bei, die verwandten Ziele der Integration, der Inklusion und des Gender Mainstreaming im Sinne einer geschlechtergerechten Förderung zu erreichen […]."
Gab es zumindest umstürzende Entscheidungen?
Selbstverständlich kann die für einen Zeitraum von gut zehn Jahren erstaunlich kleine Zahl von Gerichtsentscheidungen, die das "Gender Mainstreaming" jedenfalls erwähnen, für sich genommen nicht die Bedeutungslosigkeit des Konzepts beweisen. Was seine Befürworter an Hoffnung, was die Widerwilligen an Verachtung fürs Mainstreaming übrig haben, sie wären berechtigt, wenn sich unter den Entscheidungen "hard cases" befänden, also jener Typ umstürzender Veränderungen juristischer Auffassungen, die Richterinnen und Richter im angelsächsischen Raum vermeiden sollen: "hard cases make bad law".
Ob eine der genannten Entscheidungen "bad law" enthält, liegt im Auge des Betrachters. Der Beschluss des OVG Münster (v. 15.3.2011, Az. 1 A 634/09) behandelt beispielsweise das Begehren einer Gleichstellungsbeauftragten, an einem Disziplinarverfahren – ausgelöst möglicherweise durch sexuelle Verfehlungen am behördlichen Arbeitsplatz – beteiligt zu werden. Ihr erfolgloses Begehren stützte die Beauftragte hilfsweise auch auf das gesetzliche Gender-Mainstreaming-Prinzip. Normative Forderungen konnte das Gericht im Mainstreaming-Postulat indes hier nicht entdecken.
Gender Mainstreaming – mehr als ein "Schein"?
Eine gewisse Wirkung scheint das "Gender Mainstreaming" allenfalls in beamtenrechtlichen Auswahlverfahren zu entfalten, hier aber als Ausbildungsnachweis, den Bewerberinnen und Bewerber beizubringen haben. So findet sich im Urteil des LAG Schleswig-Holstein (v. 19.9.2011, Az. 3 Sa 182/11): Einer schwerbehinderten Bewerberin um das Amt einer kommunalen Frauenbeauftragten wird hier vorgehalten, sich nicht hinreichend mit "Gender Mainstreaming" und "Gremienarbeit" – zwei Hauptaufgaben von Frauenbeauftragen offenbar – befasst zu haben.
Auch in der Ausschreibung von Stellen des öffentlichen Dienstes, die mit "Familie und Gedöns" (Gerhard Schröder) gar nichts zu tun haben, taucht die Gender-Mainstream-Kompetenz als von Bewerberinnen und Bewerbern gefordertes Merkmals des Öfteren auf. Ein wenig merkwürdig ist es hier zwar schon, wenn "Mainstreaming"-Kompetenz in den Ausschreibungen vor Qualitäten genannt wird, die man bei Bewerbern vielleicht noch mehr schätzen sollte: strategische Kompetenz und hohe Selbstreflexionsfähigkeit. Im Sprengel des Verwaltungsgerichts Magdeburg (drei Beschlüsse vom 23.06.2010, Az. 5 B 9/10, 5 B 10/10 und 5 B 11/10) findet sich diese etwas befremdliche Reihenfolge in der Kompetenzaufzählung.
Wirklich interessant würde es aber wohl erst werden, wenn einmal folgende, bislang wohl fiktive Situation einträte: Um die Stelle in einem Gesundheitsamt einer Großstadt, für das epidemiologisch-statistische Hellsichtigkeit wünschenswert ist, bewerben sich zwei Personen: Person X hat neben Statistikkenntnissen einen Genderstudien-Bachelor, sagen wir: der Universität Duisburg-Essen. Person Y hat einen solchen Genderstudien-Bachelor nicht, dafür die etwas besseren Kenntnisse auf dem Gebiet der Epidemiologie. Welche Kompetenz sollte nach der Bestenauslese – "Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte", Artikel 33 Absatz 2 Grundgesetz – das Amt erhalten? Sollte ein Fortbildungsnachweis, ein Bachelor- oder Mastergrad in Genderstudien hier den Ausschlag geben?
Ein Lektürevorschlag, um sich über die analytische Schärfe der Genderstudien selbst ein Bild zu machen: "Widersprüche und Widerstände: Soziologische Perspektiven auf Gender, Management, Diversity und Mainstreaming" von Katja Sabisch (PDF, Seiten 101-113). Die Autorin ist Professorin für Gender Studies an der Universität Duisburg-Essen. Die Kombination aus Quellenbasiertheit und Reichweite des Werturteils ist hier durchaus erstaunlich. Andere Sozialwissenschaften sind weniger leistungsfähig. Wer dann noch die übrigen rund 100 Seiten der Broschüre "Wissenschaft und Politik gehen Hand in Hand – Gender Mainstreaming im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis am Beispiel der Stadt Bochum" studiert, hat vermutlich ein Judiz, ein Rechtsgefühl, dafür, welchen Rang das Gender Mainstreaming beispielsweise in der beamtenrechtlichen Bestenauslese haben sollte.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Internationaler Frauentag: . In: Legal Tribune Online, 08.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14873 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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