Strafvollzug in Russland: Der heilige Querulant

von Martin Rath

26.04.2015

2/2: Strafvollzug bis aufs Blut

In seiner rheinländischen Heimat war Haas im durchaus rigiden Katholizismus erzogen worden, der seinerzeit vorherrschte. Die Romane Goethes galten hier beispielsweise als gottlos, der "Faust" als Teufelswerk. In Moskau hatte Haas‘ rheinländische Religiosität vielleicht ihr Gutes. Die russische Dienstmagd etwa, die von ihrem Herrn durch einfachen Befehl auf Monate ins Gefängnis gesteckt wurde – einer Verfehlung wegen oder weil sie ihm nicht zu Willen war – wurde dort mit "echten" Kriminellen zusammengesperrt. Weil die Gefängnisse kaum beheizt waren, die Männer-Abteilungen durch ihre enormen Belegungszahlen zumindest etwas wärmer, wechselten Frauen und mit ihnen eingesperrte Kinder im Winter zu den inhaftierten Männern – allein, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen.

Haas stritt dafür, Männer, Frauen und, wenn sie schon ins System gerieten, auch die Kinder getrennt und unter hygienischen Verhältnissen bei angemessener Ernährung unterzubringen.

Ein zentrales Anliegen der Humanisierung des russischen Strafvollzugs betraf die Ketten. Entsprechend der schon damals grotesk überdehnten Geographie Russlands, der menschenleeren Räume Sibiriens, war die Verbannung eine Hauptstrafe des Staats- und Privatjustizwesens. Üblich war es vor den Reformbemühungen Haas‘, die Verbannten an einer starren Eisenstange zusammenzuketten. Die Fesseln erlaubten kaum Bewegungsspielraum. Bevorzugt wurden physisch möglichst unterschiedliche Menschen zu einer Kettengemeinschaft zusammengebunden, weil dies den Bewegungsraum der stärkeren Gefangenen zusätzlich einengte und die körperlich Schwachen auf diese Weise mitgeschleppt wurden.

Auf Fußmärschen von mehreren Tausend Kilometern scheuerten die Ketten ihre Träger blutig. In endlosen Schriftwechseln mit den vorgesetzten Behörden – der Strafvollzug zählte bis in die 2000er-Jahre zum Geschäftsbereich des russischen Innen-, nicht des Justizministeriums – setzte Haas leichtere, gepolsterte Ketten durch. Er übernahm die medizinische Untersuchung der Verbannten, machte sich beim Vollzugspersonal unbeliebt, weil er altersschwache und kranke Gefangene vom mörderischen Fußweg nach Sibirien zurückstellte.

In einer Vielzahl von Fällen kaufte Haas die Kinder von Leibeigenen auf. Waren die Eltern nach Sibirien verbannt, sahen die adeligen Eigentümer nicht ein, warum diese ihre Kinder mitnehmen sollten. Unter Einsatz seiner eigenen wirtschaftlichen Mittel versuchte Haas, die Familien beisammen zu halten, verarmte darüber selbst und galt zusehends als komischer Vogel der Moskauer Gesellschaft.

Vertrackter, streitsüchtiger Sonderling

In den Augen der Gefängnis- und Polizeibehörden Moskaus war Haas ein "vertrackter, streitsüchtiger Sonderling", dessen Engagement für den kriminellen Abschaum als unschicklich angesehen wurde. Allein sein Einsatz um bessere Ketten löste ein Kompetenzgerangel zwischen mindestens drei Behörden aus, das sich über rund zehn Jahre hinzog und in seinem bürokratischen Tonfall sowie im Kampf der Amtsträger, die mehr um ihre Zuständigkeiten als die Sache selbst stritten, leider in #hnlicher Form bis heute erlebt werden kann.

Haas, der deutsche Strafvollzugsreformer in Russland, erfuhr einiges Nachleben. Als er 1853 starb, folgten mehr als 20.000 Menschen seinem Sarg. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren Haas-Biografien in Russland populär. Der russische Germanist und Schriftsteller Lew Kopelew (1912-1997) veröffentlichte Anfang 1984 ein Büchlein über den "heiligen Doktor Fjordor Petrowitsch".

Kopelew selbst war unter Stalin zu zehn Jahren Lagerhaft, dem sowjetischen und heute russischen Nachfolgemodell von Leibeigenschaft und Verbannung, verurteilt worden, weil er 1945 gegen die Gräuel der Roten Armee in Ostpreußen protestiert hatte. 1981 wurde er nach langjähriger intellektueller Oppositionsarbeit ausgebürgert. Vom deutschen Exil aus, zählte er zu dem Förderern jener Menschenrechtsgruppe "Memorial", die sich nicht zuletzt der Staatsverbrechen des sowjetischen Strafvollzugs annimmt, und der heute unter Putin die Arbeit nach Kräften erschwert wird.

Es ist schon ein wenig merkwürdig: Während heute jedes Justiz- und Staatsversagen in den USA eine solide Berichterstattung erfährt, bleibt für die russische Gegenwart nicht viel Aufmerksamkeit übrig. Dabei sind in der Russischen Föderation derzeit rund 460 Menschen je 100.000 Einwohnern inhaftiert (Deutschland: 76, England/Wales: 149), Zehntausende von Tuberkulose- und HIV-Infektionen zählen zu den Haftbedingungen.

Solange die Abscheu gegen barbarische Gefängnisregimes so ungleich verteilt bleibt, wie sie es gegenwärtig ist, werden Strafjustiz und Strafvollzug wohl noch manchen heiligen Haas hervorbringen müssen und man wird genau hinsehen müssen, ob Kritiker den Querulanten-Stempel tatsächlich verdienen.

Literatur: Lew Kopelew: "Der heilige Doktor Fjordor Petrowitsch. Die Geschichte des Friedrich Joseph Haas – Bad Münstereifel 1780 – Moskau 1853". Hamburg (Hoffmann und Campe) 1984.

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Strafvollzug in Russland: . In: Legal Tribune Online, 26.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15351 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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