Man ist bis heute geneigt, Menschen als Querulanten abzutun, die mit großer Beharrlichkeit eine Idee verfolgen, deren Zeit nicht gekommen ist. Dass man ihnen damit Unrecht tut, offenbart sich oft erst in der Rückschau. Ein solcher Fall ist der von Friedrich Joseph Haas, der als Strafvollzugskritiker die inhumanen Haftbedingungen im Russland des 19. Jahrhunderts anprangerte. Von Martin Rath.
Heinrich Böll (1917-1985) schrieb über den Mann, den die Strafvollzugsbehörden seiner Zeit als Querulanten sahen, dass man an ihm "den Unterschied zwischen Gutmütigkeit (die in den meisten Fällen eine Komponente Faulheit hat) und Güte (die ruhelos ist und Tiefe voraussetzt) studieren" könne. Bölls Wort vom gütigen Menschen galt Friedrich Joseph Haas (1780-1853), einem Arzt, den es als jungen Mann nach Russland verschlagen hatte, und der fast ein Vierteljahrhundert lang an der Humanisierung des Strafvollzugs in Moskau arbeitete.
Seine an humanistischen Prinzipien orientierte Arbeit im russischen Strafvollzug sowie als Armenarzt in Moskau machten Haas schon zu Lebzeiten, erst recht dann posthum gegen Ende des Zarenreichs zu einer populären Figur. Die deutsche Schule in Moskau trägt seinen Namen. Man ist bis heute geneigt, Menschen als Querulanten abzutun, die mit großer Beharrlichkeit eine Idee verfolgen, deren Zeit nicht gekommen ist, und dabei vor allem mit dem Widerstand einer unbeweglichen Bürokratie zu tun haben.
Arzt der Reichen und Schönen sowie der Armen
Friedrich Joseph Haas wurde 1780 in Münstereifel, einer kleinen Ortschaft in der rheinländischen Eifel, die 1794 von französischen Revolutionstruppen besetzt und bald darauf von Frankreich annektiert wurde, als Sohn eines Apothekers geboren. Haas studierte im gleichfalls französischen Köln Medizin und wurde unter anderem wegen seiner Fertigkeiten in der Augenheilkunde im Jahr 1806 von der russischen Fürstin Repnin mit einem "Anstellungsvertrag" zum Hausarzt der Familie und ihrer Dienerschaft gemacht. Gegen ein stattliches Entgelt von 2.000 Rubeln jährlich verpflichtete sich der junge Arzt, die Fürstenfamilie nach St. Petersburg bzw. an ihre sonstigen ständigen Aufenthaltsorte zu begleiten.
In Moskau, seinem ersten Wohnort in Russland, wurde Haas in gutem Einvernehmen aus dem Dienst der Fürstenfamilie entlassen. Er machte sich als Forschungsreisender einen Namen, der die Heilquellen in den frisch von Russland annektierten Gebieten des Kaukasus untersuchte. In Moskau galt Haas als der Arzt der Reichen und Schönen, der bevorzugt von adeligen Damen und Herren frequentiert wurde.
Mit 27 Jahren ernannte man ihn zum Chefarzt des Moskauer Paulskrankenhauses. Erhebliches Engagement zeigte Haas in der medizinischen Versorgung der armen Bevölkerung der rund 300.000 Einwohner zählenden Stadt. 1825 ordnete der Gouverneur Moskaus an, dass Haas zum Stadt-Medicus von Moskau berufen sei.
60.000 Inhaftierte bei 300.000 Einwohnern
Drei Jahre später, im Dezember 1828, gründete Fürst Golizyn, Generalgouverneur von Moskau, nach dem Vorbild der russischen Hauptstadt St. Petersburg ein Gefängnisfürsorgekomitee, dem auch der Stadt-Medicus angehören sollte. Sonderlich zartfühlend ging es im 19. Jahrhundert sicher weltweit nirgendwo im Strafvollzug zu. Der russische war jedoch – Spiegelbild einer besonders unfreien Gesellschaft – als ausgesprochen brutale Veranstaltung verrufen.
Haas‘ Hauptsorge galt den Verbannten, in deren Schicksal nicht allein die Brutalität des Strafvollzugs sichtbar wurde. Die drei Gefängnisse Moskaus, einer Stadt von seinerzeit rund 300.000 Menschen, wurden, so berechnete der Arzt, jährlich mit circa 60.000 Menschen belegt. Das Risiko, inhaftiert zu werden, betraf nicht allein mutmaßliche Straftäter. Insbesondere wirkte sich das System der Leibeigenschaft aus, die offiziell erst 1861 abgeschafft werden sollte. Ein Gutteil der bäuerlichen Bevölkerung Russlands war faktisch Eigentum ihrer adeligen Grundbesitzer. Wer ohne Papiere seines Herrn in der Stadt angetroffen wurde, galt ohne Weiteres als flüchtig und durchlief das Gefängnissystem.
Die Herren der leibeigenen Bauern waren nicht nur auf ihren Dörfern befugt, nach ihrem Gutdünken Strafgewalt auszuüben. Ihre gutsherrliche Gewalt griff auch in der Stadt: Die städtischen Gefängnisbehörden vollzogen beispielsweise Freiheitsstrafen, die von der Herrschaft gegen Dienstboten und anderes Personal verhängt wurden. Irgendeine Verfehlung einer Dienstmagd, schon sah sie sich für Monate im Gefängnis. Rechtsschutz gab es nur rudimentär in Form eines Beschwerdewesens – wobei am Beschwerdeführer im Fall eines abschlägigen Bescheids Körperstrafen vollzogen wurden.
Martin Rath, Strafvollzug in Russland: . In: Legal Tribune Online, 26.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15351 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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