Postüberwachung: DDR-Pro­pa­ganda muss man haben dürfen

von Martin Rath

03.10.2019

Wie sehr schadet Post aus dem Osten der demokratischen Seele? Am 3. Oktober 1969 gab das Bundesverfassungsgericht der Informationsfreiheit der Bürger im freieren Teil Deutschlands gegenüber staatlicher Postüberwachung den Vorrang.

Am 3. Oktober 1969 hatte die alte Bundesrepublik Deutschland einen liberalen Augenblick. Es ist schwer zu sagen, wie lange er anhielt. Doch 20 Jahre nach seiner Gründung befand der Staat seine Bürgerinnen und Bürger als hinreichend mündig, um sich nicht länger durch "Zersetzungsmaterial" aus den Druckerpressen der SED-Diktatur bedroht zu sehen.

Heute vor 50 Jahren entschied das Bundesverfassungsgericht über die Sache eines Mannes aus Münster, der sich im Jahr 1964 von einem Bekannten einige Zeitungen aus der DDR hatte schicken lassen, darunter ein Exemplar der "Leipziger Volkszeitung" vom 8. Mai 1964. Die Zeitung, die vor der NS-Diktatur ein SPD-Blatt gewesen war, diente zwischen 1946 und 1989 als Organ der SED in Sachsen.

Die Postsendung hatte den westfälischen Zeitungsleser nicht erreicht: Sie war auf ihrem Weg nach Münster im Hauptzollamt Braunschweig zur Kontrolle nach dem "Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote" vom 24. Mai 1961 angehalten, von Zollbeamten geöffnet, sodann von der Staatsanwaltschaft Braunschweig zurückgehalten worden.

Auf Anfrage des enttäuschten Empfängers hatte die Staatsanwaltschaft Mühe, ihm eine Abschrift des gerichtlichen Einziehungsbeschlusses zuzuschicken. Eine erste Abschrift bezog sich auf eine andere DDR-Druckschrift, später folgte dann die Abschrift eines Beschlusses des Landgerichts Lüneburg vom 21. Mai 1964, die besser zur Einziehung der "Leipziger Volkszeitung" passte.

Telefon- und Postüberwachung bis 1968

Den Forschungen des inzwischen emeritierten Freiburger Historikers Josef Foschepoth (1947–) ist es zu verdanken, dass seit 2009 neben der systematischen Verletzung des Postgeheimnisses in der DDR auch der hochproblematische Umgang westlicher Dienststellen mit dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist – ein polemisches Interesse der SED-Nachfolgepartei "Linke", die neueren Überwachungsinteressen in der digitalen Infrastruktur und ins Kraut schießende Verschwörungstheorien zur Macht der Alliierten taten ein Übriges.

Der Fall des enttäuschten Lesers aus Münster gehört in die Schlussphase staatlicher Post- und Medienüberwachung:Die Karlsruher Richter bescherten der Republik ihren liberalen Augenblick.

Für die Überwachung des Post- und Telefonverkehrs bestand bis 1968 grob gefasst folgende Doppelstruktur: Während Art. 10 Grundgesetz (GG) einen Zugriff auf den Inhalt ohne Kenntnis der Kommunikationsteilnehmer bis 1968 im Wesentlichen ausschloss, sahen sich die Postdienststellen durch die britische und französische, vor allem durch die amerikanische Kontrollmacht befugt und verpflichtet, den Telefon- und Briefverkehr auf Kommunikation hin zu überwachen, die deren Interessen zuwiderlaufen mochte.

Rechtsgrundlage bot hierzu eine Verordnung zum Gesetz Nr. 5, das die Alliierte Hohe Kommission zum 21. September 1949 erlassen hatte. Das Gesetz selbst zielte zwar erkennbar darauf ab, den Westalliierten das Recht vorzubehalten, gegen ihnen möglicherweise feindlich eingestellte Massenmedien – Rundfunk und Presse – vorgehen zu können, um die Sicherheit der eigenen Truppen in Deutschland zu gewährleisten und Einfluss auf einen womöglich aus dem Ruder laufenden demokratischen Prozess nehmen zu können.

Beileibe nicht nur "antikommunistische" Stoßrichtung

Unter Überwachung stand jeder, der Rang und Namen hatte. Betroffen waren u.a. die Bonner Abgeordneten – doch zog es Kreise. Foschepoth zitiert aus einem Schreiben des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich von Brentano (1904–1964), an Bundeskanzler Adenauer (1876–1967): "Ich weiß, dass beispielsweise in Mainz die Landesregierung, der Landtag, die Gerichtsbehörden, die politischen Parteien, die konfessionellen Verbände, der Bauernverband, das Regierungspräsidium, die Verlage, die Bischöfliche Kanzlei, der Bischof selbst, eine Anzahl von Anwälten, Landtags- und Bundestagsabgeordneten, bestimmte Firmen und Zeitungen usw. dieser ständigen Kontrolle unterliegen."

In den 1950er Jahren griffen die Alliierten dank der nicht zuletzt durch diese Überwachung gewonnenen Erkenntnisse gelegentlich noch direkt durch. So hoben die britischen Behörden 1953 u.a. in Düsseldorf und Solingen einen Kreis um den vormaligen Goebbels-Mitarbeiter Werner Naumann (1909–1982) und den Gestapo-Justitiar Werner Best (1903–1989) aus, die eine rechtsradikaleNeuorientierung der – ohnehin national auftretenden – FDPins Auge gefasst hatten.

Erst als Anfang der 1960er Jahre der fortgesetzte Wertungskonflikt zwischen dem alliierten Gesetz Nr. 5 und Artikel 10 GG allmählich anrüchig wurde, nahm die Presse Anstoß daran, dass nicht nur auf der Seite der Überwachten, sondern auch an den Abhör-Geräten von Post- und Geheimdienstämtern ehemalige NSDAP-, SS- und Gestapo-Leute saßen.

Überwachung von Post aus der DDR und dem Ostblock

Im Fall des um seine "Leipziger Volkszeitung" gebrachten Beschwerdeführers aus Münster war ein zweiter Teil der Überwachungsstruktur einschlägig – hier kam die Bundesrepublik auch ohne alliierte Ermächtigungsgrundlage klar.

Zwar lieferte die Bundespost – so Foschepoth –in großem Umfang auch verdächtige Postlieferungen an die Amerikaner aus. In den Jahren 1960 bis 1967 seien beispielsweise 42,1 Millionen Sendungen dem Hauptquartier der US-Streitkräfte in Frankfurt am Main ausgehändigt worden.

Soweit es aber um Schriften mit Propagandaverdacht ging – das Bundesverfassungsgericht höchstselbst spricht noch 1969 von "Zersetzungsmaterial" – griff auch rein deutsches Recht hinreichend. Allein im Januar 1967 wurden, so wussten die Karlsruher Richter in ihrem Beschluss vom 3. Oktober 1969, von 401.980 Briefen und 93.993 Drucksachen aus der DDR, die von den Zollämtern geöffnet worden waren, 391.489 Briefe und 92.506 Drucksachen, "zurückgehalten"– zu Deutsch: Man hatte sie letztlich in besonderen Schredder-Einrichtungen vernichtet.

Für Drucksachen, die – wie die "Leipziger Volkszeitung" – jedenfalls formal aus dem Dunstkreis der SED kamen, wurde auch ohne nähere Prüfung des Inhalts unterstellt, dass ein Verstoß gegen §§ 128, 94, 90a Strafgesetzbuch (StGB) und gegen §§ 42, 47 Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorliege – derartige Schriften dienten also der Geheimbündelei, dem Landesverrat oder der Förderung einer verfassungsfeindlichen Organisation bzw. stellten eine Zuwiderhandlung gegen das KPD-Verbotsurteil dar.

Der SPD-Kronjurist Adolf Arndt (1904–1974) mokierte sich bereits 1952, dass "irgendwo ein Postsekretär oder der Assessor einer Staatsanwaltschaft sitzen, die mit gottbegnadetem Unverstand darüber entscheiden, ob ein Bundestagsabgeordneter durch den Empfang dieser Drucksachen Schaden an seiner demokratischen Seele nehmen kann."

Weil aber Post, Zoll, Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte letztlich in einem diskreten Verfahrenagierten, kamen breitere Bevölkerungskreise unterhalb des Rangs eines SPD-Kronjuristen erst in den 1960er Jahren auf den Gedanken, ihre "demokratische Seele" werde etwas zu sehr behütet – dank §§ 430 ff. Strafprozessordnung (StPO) einerseits und der rechtsdogmatischen Überzeugung, dass der Adressat einer nicht zugestellten Sendung kein schützenswertes Interesse habe, blieb die Sache lange unsichtbar.

Lichtblick vom 3. Oktober 1969: Informationsfreiheit

Der Bundesjustizminister argumentierte daher auch im Verfahren zum Wunsch des Mannes aus Münster, feststellen zu lassen, dass ihm die Zeitung aus Leipzig zu Unrecht vorenthalten worden sei, daher u.a., dass es sich bei den Druckschriften gar nicht erst um eine "allgemein zugängliche Quelle" im Sinn von Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 GG handele. Wolle man den Adressaten im Einziehungsverfahren ein dingliches Recht an der Postsache einräumen, sei überhaupt die Kontrolle der Postsendungen aus der DDR unmöglich.

Das Bundesverfassungsgericht mochte sich mit der sachenrechtlichen Frage jedoch gar nicht erst befassen (BVerfG, Beschl. v. 03.10.1969, 1 BvR 46/65).

Im Weiteren billigte es dem Gesetzgeber zwar zu, Schriften wegen der genannten Straftatbestände des Staatsschutzes einzuziehen – die Gerichte müssten in ihren entsprechenden Beschlüssen jedoch nicht nur die vernachlässigenswerte Pressefreiheit der SED-Medienbetriebe berücksichtigen, sondern auch die Rechte der Empfänger ostzonaler Drucksachen:

"Die Informationsfreiheit wurde gerade als Reaktion auf die nationalsozialistischen Informationsverbote und -beschränkungen verfassungsrechtlich garantiert, um die ungehinderte Unterrichtung auch aus Quellen, die außerhalb des Herrschaftsbereiches der Staatsgewalt der Bundesrepublik bestehen, zu gewährleisten. Wenn die Informationsquelle an irgendeinem Ort allgemein zugänglich ist, mag dieser auch außerhalb der Bundesrepublik liegen, dann kann auch ein rechtskräftiger Einziehungsbeschluß nicht dazu führen, dieser Informationsquelle die Eigenschaft der allgemeinen Zugänglichkeit zu nehmen."

Argumenten  vom Format, dass man sich in Westdeutschland auch aus anderen Quellen als der DDR-Presse über die Zustände in der SED-Diktatur unterrichten oder es sich bei verbotenen Werken per se um keine "allgemein zugänglichen Quellen" handeln könne, war damit der Boden entzogen.

Und hilft das heute alles weiter?

Das hübsche Adolf-Arndt-Zitat oder die mit dem Pathos der 1949 frisch entdeckten Informationsfreiheit gezogene Grenze für das "Abfangen" staatswohlwidriger Informationen lassen sich heute natürlich gut gegen aktuelle Versuche ins Feld führen, einen Datenstromehrenrühriger, denunziatorischer oder schlicht psychisch gestörter Aussagen zu reduzieren.

Damals wie heute wird der Schlüssel zum liberalen Lichtblick aber wohl darin liegen, nicht gegen das "Abfangen" schlechthin zu opponieren, sondern die Pflicht zu stärken, es transparent zu machen und zu begründen.

Zitiervorschlag

Postüberwachung: . In: Legal Tribune Online, 03.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37987 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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