Von Landfahrern und Zwangsvasektomie: "Zigeuner" vor dem Bun­des­ge­richtshof

von Martin Rath

21.02.2016

2/2: Sterilisationsandrohung gegen Zigeuner geht in Ordnung

Auf den ersten Blick mag es Wunder nehmen, dass seinerzeit niemand den Bundesrichtern Schmidt, Ascher, Dr. Kregel, Dr. von Werner und Wüstenberg zumindest rhetorisch die Roben über die Ohren gezogen hat, zumal dem häufiger zitierten Urteil vom 7. Januar 1956 kaum weniger krude Entscheidungen folgten. Allzu schnell waren die Land- und Oberlandesgerichte den zigeunerfeindlichen Vorgaben aus Karlsruhe nicht gefolgt. Beispielsweise hatte das OLG Köln 1959 in einer Anordnung Himmlers, aus den Deportationsgebieten nach Deutschland zurückkehrenden "Zigeunern" mit der Zwangssterilisierung zu drohen, den Beginn rechtsstaatswidriger Verfolgungen auf das Jahr 1940 datiert.

Der vierte Zivilsenat des BGH erklärte den Kölner Richtern, damit falsch zu liegen. Bei der Androhung, zwangssterilisiert zu werden, habe es sich "ebenso wie bei der Androhung einer Verbringung in ein Konzentrationslager nur um ein Mittel" gehandelt, "die deportierten Zigeuner möglichst wirksam von einem Verlassen ihres Deportationsortes abzuhalten. Eine solche Androhung diente daher ausschließlich demselben Zweck, der mit der Deportation erreicht werden sollte, nämlich im militärischen und sicherheitspolitischen Interesse das ungeregelte Umherziehen der Zigeuner zu unterbinden." (BGH, Urt. v. 30.10.1959, Az. IV ZR 144/59). Die Deportation des Klägers, eines um seine bescheidene Existenz als kleiner Textilhändler gebrachten "Zigeuner", erklärte der BGH unter anderem aus Gründen der Spionageabwehr für gerechtfertigt.

Bayern, ewig von Migration bedroht

Bei Licht betrachtet fällt die heute eher befremdlich wirkende BGH-Rechtsprechung, die "Zigeunern" eine Wiedergutmachung weitgehend verweigerte, weniger aus dem Rahmen. Bereits vor Gründung der Bundesrepublik strebten Polizeibehörden und Landespolitiker danach, die zigeunerfeindliche Verwaltungspraxis und Gesetzgebung der Jahre vor 1933 alsbald wieder zu etablieren. Unsicherheit bestand zunächst insoweit, ob die alliierten Besatzungsmächte es beispielsweise mittrügen, wenn örtliche Dienststellen "Zigeuner" nach alter Verwaltungstradition zum Weiterziehen zwingen würden.

In einer Reihe der späteren Bundesländer wurden zentrale Zigeuner-Karteien geführt, über Geburten, Heiraten oder Todesfälle von Landfahrern ohne festen Wohnsitz hatten die Standesämter weiterhin den Polizeidienststellen unverzüglich Meldung zu machen. In den Landeskriminalämtern sowie beim Bundeskriminalamt befassten sich weiterhin Beamte damit, Stammbäume von "Zigeunern" zu zeichnen, um schon Säuglinge als spätere Tatverdächtige zu erfassen.

Das kurzfristig unter SPD-Beteiligung regierte Bayern erließ am 22. Dezember 1953 die sogenannte Landfahrerordnung. Die bayerischen Politiker vermieden in diesem Gesetz, das Menschen mit nomadischer Lebensweise den jeweiligen örtlichen Aufenthalt madig machen sollte, zwar das Wort "Zigeuner", weil sie in einer frühen Form verdrehter "political correctness" annahmen, so das Verbot rassischer Differenzierung nach Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz unterlaufen zu können. Die Rede war nun von "Landfahrerfamilien oder -horden", deren strikte Überwachung das bayerische Innenministerium der Polizei aufgab.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, hieß es aber in den Ausführungsbestimmungen: "Für die Feststellung der Landfahrereigenschaft ist die nomadisierende Lebensweise entscheidend, die sich darin äußert, daß eine Person ohne festen Wohnsitz oder trotz eigenen Wohnsitzes nicht nur vorübergehend nach Zigeunerart unstet im Lande umherzieht." Die Landfahrerordnung blieb bis 1970 bayerisches Recht.

Kriminalstatistik belegt Polizeiwahn

In anderen Bundesländern wurde die bayerische Gesetzgebung zwar als vorbildlich wahr-, aber nicht übernommen. Eine bundeseinheitliche Anti-Zigeunerpolitik entfiel, weniger mit Blick aufs Grundgesetz als in die Statistik: 1954 wurden bundesweit 1.743 Sinti und Roma unter 1,1 Millionen Tatverdächtigen identifiziert – zu wenige, als dass man ungestört wieder in alte Polizeipraktiken hätte zurückfallen können.

Ein Verzicht auf Restriktionen ging damit nicht einher. In Nordrhein-Westfalen forcierte beispielsweise seit 1954 die Landesregierung eine Verwaltungspraxis, Sinti und Roma die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen, indem von ihnen ein detaillierter Dokumentennachweis verlangt wurde, zu Recht im Besitz eines deutschen Reisepasses zu sein. In den Entschädigungsämtern und Polizeibehörden griff man auf die Expertise von Beamten zurück, die bereits vor 1945 an der Verfolgung von Sinti und Roma beteiligt gewesen waren.

Erst in den achtziger Jahren gerieten die systematische Erfassung und mehr als nur gelegentliche Schikane gegen "Zigeuner" seitens der Polizeibehörden verstärkt ins Augenmerk der liberalen Öffentlichkeit. In Hamburg entdeckte man beispielsweise 1981, dass schon ein sechs Monate altes Kind aus einer Sinti-Familie als Gefahrenquelle polizeilich erfasst wurde. Vor dem BKA-Gebäude in Wiesbaden demonstrierten 1983 Sinti und Roma dagegen, dass in der damals vorwärts schreitenden polizeilichen Datenerfassung das Merkmal "ZN" für "Zigeunername" fortgesetzt würde, eine klassische Vorgehensweise zigeunerfeindlicher Polizeiarbeit.

Spätestens in den 1990er Jahren ist die Aufnahme der Sinti und Roma in das staatsoffizielle Gedenken an die NS-Mordpraxis erfolgt, der BGH distanziert sich heute von seiner kruden Rechtsprechung der 1950er Jahre.

Ob damit den Lebenden geholfen ist, steht, wie immer, auf einem anderen Blatt.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Von Landfahrern und Zwangsvasektomie: . In: Legal Tribune Online, 21.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18532 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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