Archivkunde: Akten­kundig werden leicht­ge­macht

von Martin Rath

11.06.2017

2/2: Man möchte sich sofort in Akten vergraben

Ein digitalisiertes Beispiel aus der Broschüre "Moderne Aktenkunde", das online verfügbar ist, mag den Reiz der alten Akten demonstrieren, gerade weil ihm nicht bis zur historisch abschließenden Erkenntnis gefolgt werden kann. Es "zeigt den im 20. Jahrhundert klassischen Dienstweg von der Ministerialebene bis hinunter zum einzelnen Beamten in einer Stadtverwaltung. Dabei wird es nicht nur von einer Behörde zur anderen geschickt, sondern zum Teil auch innerhalb einer Behörde weitergeleitet" (PDF).

Damit nicht genug. Präsentiert wird u.a. ein Schreiben des Hessischen Ministers des Innern vom 16. Juni 1952, mit ihm eine "Mitteilung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen" wonach ein in Saarbrücken ansässiges "Zentralinstitut für Landesforschung - Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten" bundesweit "unter dem Deckmantel der Beschaffung von Unterlagen für saarländische Strukturuntersuchungen Auskünfte erbittet, die schon nach ihrer Fragestellung den Verdacht der Industrie- und Werkspionage aufkommen lassen. Es handelt sich bei diesem Institut nicht um eine wissenschaftliche Einrichtung, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach um eine gegen die Bundesrepublik gerichtete Propagandastelle, die aus Geheimfonds der saarländischen Regierung finanziert wird."

Im Beispiel ist das Saarland gar nicht putzig

Saarländische Industriespionage und gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Propaganda aus Saarbrücken? Das scheint ein fremdes Universum zu sein! Es ist ein Erkenntniskeim in nuce: 1952 war das Saarland noch nicht Teil der Bundesrepublik Deutschland, sondern eine Art französisches Protektorat, das Saarländische Oberlandesgericht hatte einen französisch-deutschen Senat mit französischer Führung, der Pariser Geheimdienst akquirierte fleißig, der spätere Chef der saarländischen Verbraucherschutzzentrale, ein ehemaliger NS-Studentenführer, soll sich sowohl den Franzosen als auch der DDR-Führung angedient haben – der Kampf um die deutsche Einheit hatte noch eine Westfront.

Ein Durchschlag in der Marburger Stadtverwaltung dokumentiert, was der Prozess der europäischen Einheit seit 1957 eben auch bedeutete: ein Ende imperialer Herrschaftsvorstellungen in Deutschland, ausgeführt in klandestiner Manier. Und hier wird im Kleinen deutlich, was die "europaskeptische" Verstocktheit nicht bedeutet: Sie leitet heute nicht in die Zeiten des letzten Weltkriegs zurück, aber doch zurück in solch grausliche Behördenparanoia, in denen noch ein so putziger Landstrich wie das Saarland als Brutstätte innereuropäischer Geheimdienstoperationen zu sehen war.

Babylon, Saarbrücken, Berlin: Non est in actis …

Im Jahr 2000 legte die früh verstorbene Rechtswissenschaftlerin und Philosophin Cornelia Vismann (1961–2010) unter dem Titel "Akten. Medientechnik und Recht" eine inhaltsschwere Untersuchung vor, die den Bogen von den babylonischen Kanzleischreibern bis in ihre Gegenwart schlug. Die "Moderne Aktenkunde" bietet einen archivwissenschaftlichen Blick auf das, womit – und oft genug: worin – Juristinnen und Juristen leben: die Welt der Akten.

Dass sich in manch altem Gürteltier-Inhalt, gelblich am Rand, vor Staub nur schlecht zu greifen, auf brüchigem Papier eine – ohne jeden Scherz – dramatische Perspektive auf die Gegenwart auftut, war hier nur am zufälligen Beispiel zu zeigen: Es muss nur jemand nachschauen oder seine Perspektive entsprechend schärfen.

Hinweis: Holger Berwinkel, Robert Kretzschmar, Karsten Uhde (Hg.): Moderne Aktenkunde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Band 64) ist über die Hochschule für Archivwissenschaft zu beziehen.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Archivkunde: . In: Legal Tribune Online, 11.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23153 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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