Zwietracht zwischen Staat und Gesellschaft: Auch die Juris­ten­sprache kann das Volk über­for­dern

von Martin Rath

16.06.2024

Vor einer Spaltung der Gesellschaft wird in ermüdender Frequenz gewarnt, fast ebenso häufig nachgewiesen, dass es sie nicht gebe. Im unruhigen Jahr 1798 erklärte ein recht skurriler Pädagoge, wie produktiv die Zwietracht für den Staat ist.

Eine alte Frau steht vor ihrer Hinrichtung. Sie hatte Flachs im Wert von ungefähr drei Groschen gestohlen, der Verwalter des landwirtschaftlichen Gutes ihr daraufhin gedroht, sie am nächsten Tag mit einer wohl überschaubaren Buße zu bestrafen. Aus Furcht vor dieser Strafe, in der erregten Fantasie eines einfachen, ungebildeten Menschen, setzte sie den Hof des Grundherren in Brand.

Sie wird zum Tod verurteilt und auf bzw. in einem Scheiterhaufen verbrannt. Auch unter Friedrich II. von Preußen (1712–1786) wendete die Strafjustiz diese archaische spiegelbildliche Strafe an. In manchen Fällen wurden Brandstifter diskret getötet, bevor ihr Körper in die Flammen geriet – ein Zugeständnis an das aufgeklärte Zeitalter. Möglicherweise geschah dies auch bei ihr.

Der damals recht bekannte Schriftsteller und eigensinnige Gymnasialprofessor Johann Gottlieb Schummel (1748–1813) war Zeuge der Hinrichtung im schlesischen Liegnitz, dem heutigen Legnica.

Er hielt einen denkwürdigen Umstand fest.

Am öffentlichen Gerichtstag, also dem Theater des Schreckens der Tötung vor großem Publikum, sei der alten Frau das Todesurteil vorgelesen worden, abgeschlossen mit der Frage, ob sie es verstanden habe: "Die Antwort, die sichtbar von keinem Schrecken herrührte", berichtet Schummel, "war Nein; und nun erst wurde es ihr aus dem Deutschen – ins Deutsche übersetzt."

Ein aufgeklärter Preuße denkt über Justiz nach

In seiner kleinen Schrift "Das Wohl des Staats gebaut auf Zwietracht" aus dem Jahr 1798 erklärte sich Schummel grundsätzlich einverstanden mit der relativ modernen Justiz seines Landes, wenn nicht sogar begeistert.

Während etwa in Großbritannien, das damals von den gebildeten Menschen in Deutschland mit einem ähnlich manischen Interesse beobachtet wurde wie heute die USA, Straftäter wegen kleinster Delikte an den Galgen kommen konnten, werde die Todesstrafe im aufgeklärten Preußen relativ selten verhängt.

Johann Gottlieb Schummel schreibt – die Möglichkeit der Ironie ist dabei immer mitzudenken –, dass er in seinen fünfzig Lebensjahren keinen Prozess in eigener Sache geführt, jedoch einen in fremder Sache gewonnen habe. Als preußischer Staatsbürger habe er lebhaften Anteil an der Gesetzgebung seiner Zeit genommen, etwa dem berühmten Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794:

"Ich applaudierte der Abschaffung der Advokaten, indem es mir handgreiflich schien, dass unter ihnen nicht die beste Sache, sondern der künstlichste Darsteller der Sache siegen musste; und ebenso gab ich bei weitem einem in der Landessprache geschriebenen, dem Staate genau angepassten Landrechte, vor aller römischen Rechtsweisheit den Vorzug."

Doch hätten, so Schummel, die Justizreformen nichts an der Unzufriedenheit des Publikums in Fragen der Justiz geändert. Am Fall der Brandstifterin im schlesischen Liegnitz belegte er nun, wie sehr die Sprache der Juristen ihre Adressaten überfordere:

"Und wie oft spricht nicht die Justiz zu Leuten, die überhaupt keines periodischen, langgegliederten Vortrages empfänglich sind, wäre er auch übrigens noch so fasslich; die aus gleichem Grunde nicht einmal die Predigt verstehen, nicht weil sie ihnen zu hoch ist, sondern weil sie, nur an den abgebrochenen Gesprächston gewöhnt, und des Bücherlesens unkundig, eine längere Reihe von Gedanken nicht zu überschauen vermögen."

Schummels Lehre von der notwendigen Zwietracht

Es reicht nicht für die "Sendung für die Maus", wohl aber für den Strafprozess? – Solche Beobachtungen sind in Schummels essayistischer Schrift zu einem Wohl des Staates, die aus Zwietracht entstehe, keine bloß anekdotischen Schauergeschichten mit ein bisschen moralischer Kritik an den Zeitumständen.

Vielmehr wollte er zeigen, dass sich zum einen aus der Zwietracht, den Interessengegensätzen der höheren Staatsbehörden, zum anderen auch aus dem Gegensatz von Staat und Nation – gemeint sind nach heutigen Begriffen damit Staat und Gesellschaft – produktive Spannungen ergeben.

Die Herleitung Schummels ist ein bisschen kurios, weil er sich auf ein einzelnes Zitat eines seinerzeit schon berühmten Denkers stützte.

Als unlängst in Berlin der 300. Geburtstag Immanuel Kants (1724–1804) mit staatlichem Hochamt begangen wurde, konnte man nicht jedem Festtagsredner unterstellen, dass die Begriffe des großen Gelehrten auch nur halbwegs sinnvoll aufgegriffen wurden.

Frank-Walter Steinmeier (SPD, 1956–) äußerte beispielsweise, darin, dass er als Bundespräsident in einem preußischen Prinzenschloss residiere, "hätte Kant vielleicht eine seiner berühmten 'Antinomien' entdeckt", es lasse sich "jedenfalls nicht bestreiten, dass es da einen gewissen Widerspruch gibt".

In philosophischer Strenge müssen sich Sinn und Logik dieser Steinmeier-Worte nicht unbedingt erschließen: Was hat sein Amtssitz mit Kants Antinomien zu tun, wo liegt darin ein "Widerspruch" und wie kann ein Widerspruch ein "gewisser" sein? – Johann Gottlieb Schummel machte es im Jahr 1798 besser und zeigte, dass sogar aus der Interpretation einer schon damals zum Kalenderspruch herabgesunkenen Weisheit Kants eine sinnvolle Auseinandersetzung mit einem Gegenstand folgen kann.

Sein Ausgangspunkt, den er als Schmuckzitat aus dem Zusammenhang gerissen in einer Politikerbiografie seiner Zeit gefunden hatte, ist ein Motiv von Immanuel Kant: "der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht".

Staatstätigkeiten im produktiven Gegensatz

Diesen Satz, der ursprünglich aus Kants "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"stammt (1784), prüfte nun Johann Gottlieb Schummel an einigen Gegensatzpaaren aus dem Staatsbetrieb seiner Zeit, beispielsweise an den widerstreitenden Handlungsmotiven des Departements der auswärtigen Affären und des Kriegsdepartements – nach heutigen Begriffen also des Außen- und des Verteidigungsministeriums –, am Gegensatz von "Criminal-Polizei" und "Criminal-Justiz" oder am widerstreitenden Paar der "Industriepolizey gegen das Finanzdepartement".

Versteht man die Begriffe im Kontext seiner Zeit, kommt man zu verblüffenden Perspektiven. Als "Criminal-Polizei" bezeichnete Schummel beispielsweise nicht die heutige, in Zivil gekleidete Polizei, Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft, sondern alle staatlichen Einrichtungen, die zur moralischen Besserung der Bevölkerung berufen sind, beispielsweise auch das Schulwesen, denn:

"Verbrechen haben ihren Sitz in den Vorstellungen und den natürlichen Trieben des Menschen; wer sie also verhüten will, muss psychologisch, nicht mechanisch auf den Menschen wirken. Hier scheint es mir nun, als verlasse sich der Staat in diesem Punkte größtenteils auf die Geistlichkeit und auf den Schulstand; jene betrachtet er als die Moralisten für die Erwachsenen, und diese für die Unmündigen; er scheint zu glauben, auch der rohste Bauernknabe lerne doch wenigstens die zehn Gebote, nach welchen im Criminalforum [vor Gericht, MR] auch immer fleißig gefragt wird; diese gäben ihm ja hinlängliches Licht über die erheblichen Verbrechen, so dass er sich bei Begehung derselben mit keiner Unwissenheit entschuldigen könne."

Zwar käme heute niemand mehr auf den Gedanken, die staatlichen Schulen unter den Begriff einer "Criminal-Polizei" zu fassen. Doch wird bei vielen spektakulären Straftaten nach wie vor gefragt, ob die Schule versagt habe. Es sind Lehrer völlig mit der Vorstellung überfordert, durch einfache Schulbildung eine moralisch bessere, also verbrechensärmere Welt zu schaffen. Darüber stöhnt Schummel, selbst ein eher skeptischer Lehrer, schon im Jahr 1798: "O wollte doch der Himmel, dass dieses Räsonnement ebenso wahr wäre, als es scheinbar ist!"

Man will kein Staatsfeind sein, aber doch recht frech

Die Revolution in Frankreich, die eine terroristische Staatsgewalt geschaffen hatte, erschreckte in Deutschland die Fürsten und ihre Untertanen, gerade dann, wenn sich letztere längst als vernünftige, selbst denkende Bürger verstanden.

Seinen Aussagen, die nicht nur den oft komischen Konflikt zwischen höheren Staatsbehörden und ihren Handlungsinteressen betrafen, sondern auch die gefährliche, in Frankreich ausgebrochene Zwietracht zwischen Staat und Gesellschaft, schickte Schummel eine Bemerkung voraus, die heute leider wieder aktuell wirkt:

"Ehe ich noch meine Ideen zu entwickeln anfange, muss es mir notwendig einfallen, dass es unter den Lesern einer Schrift immer eine nicht kleine Anzahl gibt, die den Autor nicht erst aushört, um ihn dann vollständig und im Zusammenhange zu beurteilen, sondern ihm schon bei den ersten Äußerungen ins Wort fällt, oder ihn gar nach dem bloßen Titel beurteilt, und respektive verurteilt."

Bestenauslese und Amtsfaulheit – ein Konfliktfeld

Nach einer längeren Vorrede, mit der er sich – wieder nicht ganz frei vom Verdacht, damit nur einen Trick ironischer Rhetorik zu nutzen – vor dem Vorwurf schützt, ein radikaler Republikaner zu sein, stellte Schummel beispielsweise die heute sogenannte beamtenrechtliche Bestenauslese als Zwietracht von Staatsführung und Gesellschaft vor. Unstreitig sei hier die Besetzung der Ministerien eine der "wichtigsten Operationen des Staates".

"An Subjekten fehlt es keineswegs, vielmehr, welch ein Sturm und Drang nach öffentlichen Ämtern, … Hier kommt doch also wohl die Nation den Wünschen und Bedürfnissen des Staats entgegen? Er braucht tüchtige Subjekte: jeder Amtskandidat wird also wohl mit aller Anstrengung nach dieser Tüchtigkeit gerungen haben; er wird von Enthusiasmus glühen, seine Kräfte fürs allgemeine Wohl aufzuopfern, und seinen Posten ganz auszufüllen? Oh wie macht die Erfahrung das, was die Vernunft zur Regel bestimmt, zur leidigen Ausnahme! Nicht das Amt mit seinen Pflichten, sondern die daran hängende öffentliche Ehre, und noch mehr die damit verbundenen Einkünfte, sind der Magnet, dem das leichte Eisenfeil so begierig entgegenfliegt!"

Auf diese Problemskizze folgt die produktive Zwietracht: "Auch die beste Regierung muss hier gegen ihre eigenen Kinder eine doppelte Defensivanstalt treffen; einmal, den Unwürdigen den ersten Eintritt ins Amt zu verwehren; und dann die wirklich Eingetretenen stets in Atem zu halten, dass nicht die anfänglich bewiesene Arbeitslust allmählig in Erschlaffung oder gänzliche Untätigkeit übergehe."

Steuerhinterziehung? – Ein Fall von "Gegenschlauigkeit"

Doch blieb Schummel skeptisch, was eine so aufgeklärte Staatstätigkeit anging, beispielsweise im Bereich der Steuer- und Finanzverwaltung: "(W)erden nicht die Schleichwege, zum Teil sehr ingeniöse und erfindungsreiche, bei Tausenden gebrochen werden, um dem Staate das Seinige zu entziehen? Und wenn die Finanzbediensteten noch so schlau sind, wird dies nicht für die Nation bloß eine Aufforderung sein, die Gegenschlauigkeit noch höher zu treiben?"

Tief verwurzelt sei hier die Zwietracht "in der menschlichen Natur. Der Staat will allgemeines, der Mensch persönliches Wohl. Der Staat verlangt Aufopferung, der Mensch nach seinem rohen Glückseligkeitstriebe verabscheuet sie. Der Staat will für diese Aufopferung jedem Einzelnen das unschätzbare Glück der Sicherheit gewähren; der Einzelne, schon im Staate geboren und dieses Glücks von Kindesbeinen an gewohnt, begreift nicht, was er dem Staate schuldig sein könnte."

Um dem abzuhelfen, müsse der Staat seine Bürger "bis zu seiner eignen Idee des allgemeinen Wohls" erheben, Staatszwecke und -gesetze so formulieren, dass ihre Prinzipien in philosophischer Strenge vernünftig sind und verstanden werden.

Unter anderem von Johann Wolfgang Goethe angefeindet, zählt Johann Gottlieb Schummel heute zu den weitgehend vergessenen Klassikern der deutschen Literatur.

Hinweis: Werke Schummels wurden selten nachgedruckt, in neuerer Zeit aber seine Satire gegen Bildungsideologien: "Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert" (1779, München [C.H. Beck] 1983). – Das Digitalisat der "Zwietracht"-Schrift ist online greifbar. Zitate daraus wurden hier im Wortstand, nicht in der Zeichensetzung leicht modernisiert. 

Zitiervorschlag

Zwietracht zwischen Staat und Gesellschaft: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54776 (abgerufen am: 06.11.2024 )

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