Das Urteil schwankt zwar meist nur zwischen den "schönsten Tagen des Jahres" und einem lästigen, womöglich schadensträchtigen Ausnahmezustand. Doch sollte der Karneval zu denken geben – vor allem juristischen Liebhabern des Staates.
Am 10. Dezember 2018 erlaubte sich der britische Unterhaus-Abgeordnete Lloyd Russell-Moyle (1986–) einen unerhörten Übergriff, mit dem er zwar vordergründig nur dagegen protestierte, dass die Regierung in letzter Minute die Abstimmung über das Brexit-Abkommen verschoben hatte. Zugleich machte er aber auch schmerzhaft darauf aufmerksam, wie gähnend hierzulande das Desinteresse der zuständigen juristischen Wissenschaft am deutschen Karnevals- und verwandten performativen Betrieb ist.
Russel-Moyle griff nach einem zeremoniellen Streitkolben – ins Deutsche meist beschönigend als Zepter übersetzt –, der im britischen Unterhaus die Anwesenheit der Königin symbolisch ersetzt, und trug ihn für wenige Minuten einige Meter fort vom angestammten Platz. Da die Monarchin von Verfassungs wegen als "dritter Teil des Parlaments" gilt, hat die Entfernung dieses Streitkolbens zur Folge, dass die Abgeordneten nicht mehr befugt sind, ihre Sitzung fortzusetzen oder gar Gesetze zu beschließen.
Übergriffe auf und mit dem zeremoniellen Kampfflegel sind selten und böten für sich genügend Grund, einen Vergleich zwischen dem britischen Parlament und dem deutschen Karneval systematisch anzugehen. 1976 erinnerte beispielsweise der konservative Abgeordnete Michael Heseltine (1933–) an das historische Vorbild des Schmuckprügels, indem er ihn schwang, um Labour-Abgeordnete davon abzubringen, während einer Debatte über die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien ihr sozialistisches Partei-Lied zu singen – "The Red Flag" (eine Melodie, bei der Deutschen zu Recht ganz anders ums Herz wird).
Keine Vorbehalte, wenn die Narren das Rathaus übernehmen?
Hier muss es jedoch genügen, den britischen Zeremonialknüppelraub als schmerzhaften Fingerzeig darauf zu verstehen, wie gering das rechtswissenschaftliche Interesse an verwandten performativen Vorgängen in Deutschland ist.
Die Karnevalszeit bietet traurige Beispiele für ein ins Folkloristische herabgesunkenes Verfassungskulturgut, zugleich aber auch Anlass zur Hoffnung – in Gestalt tanzender Karnevalsmonarchen in engen Strumpfhosen. Bevor wir uns dem Rettenden nähern, widmen wir uns dem Gesunkenen.
Eine deutsche Entsprechung zu dem in London mit verfassungsrechtlichem Ernst betriebenen Zeremonienstab-Problem bietet alljährlich die Übergabe eines sogenannten Stadtschlüssels, zumeist vollzogen am Donnerstag vor Aschermittwoch. Eine Liste der Gemeinden, in denen die Bürgermeister damit symbolisch die Macht an die sogenannten "Närrinnen und Narren" übergeben, würde den Umfang dieses Artikels wohl ohne Weiteres verdoppeln.
Allerdings wird der Vorgang hierzulande ohne jeden juristischen Ernst hingenommen. Denn obwohl in diesem Vorgang bereits dann, wenn er als nur spielerisch interpretiert wird, eine nicht zu unterschätzende Provokation liegt – immerhin übergeben hier demokratisch legitimierte kommunale Hauptverwaltungsbeamte die symbolische Hoheit in die Hände selbsternannter Spaßvögel –, sind kritische Stellungnahmen beispielsweise aus der Staatsrechtswissenschaft nicht zu beobachten.
Dies ist umso bedauerlicher, als es nicht beim symbolischen Akt bleibt, sondern nach der Machtübergabe an die "Närrinnen und Narren" alljährlich ein nur mit beträchtlichem Aufwand an Staatsgewalt eingehegter geografischer Ausnahmezustand zu beklagen ist. Jedes Jahr werden die Aufnahmeräume ungezählter Krankenhäuser in Trümmer gelegt. Alkoholvergiftete Jugendliche fehlen in der Schule, ihre Eltern am Arbeitsplatz. Bewährte Fürsprecher der öffentlichen Ordnung, von Rainer Wendt (1956–) bis Volker Rieble (1961–), sind hierzu kaum zu vernehmen. Jasper von Altenbockum (1962–) fragt aktuell zwar unschuldig, warum klimaängstliche Kinder gern freitags die Schule schwänzen, lässt aber den offensichtlichen und alljährlichen Skandal namens "Karneval" aus dem Blick.
Karnevalistische Symbolik: Gesunkenes Verfassungskulturgut
Während also ein juristisches Aufmerksamkeitsdefizit hinsichtlich des Karnevalsgeschehens zu beklagen ist, sieht man von profanen polizeirechtlichen Einhegungs- und schadensrechtlichen Aufräumarbeiten ab, zeigen Karnevalisten von jeher ein sensibles Interesse am verfassungsrechtlichen Kulturgut.
In Köln reagierten die örtlich zuständigen Faschingsfunktionäre beispielsweise 1872 dahingehend auf die Gründung des Deutschen Reichs, dass sie die Figur des "Helden Karneval" zum bis heute als Teil des sogenannten Dreigestirns auftretenden "Prinzen" umfirmierten. Weiterhin einen "Held Karneval" auftreten zu lassen, erschien nicht opportun, da der preußische König Wilhelm I. (1797–1888) nunmehr als "Heldenkaiser" verehrt wurde.
In der Figur des "Kölner Bauern" spiegelt sich sogar noch älteres Verfassungsrecht wider. Mit dem Dreschflegel (!) und dem Reichswappen ausgestattet, wird er als Schildhalter des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation verstanden und verkörpert im mittelalterlichen Quaternionensystem einen der Reichsstände: Er hebt damit im 15. Jahrhundert entwickeltes Verfassungskulturgut ins Bewusstsein der Gegenwart!
Wie wenig Gegenliebe diese Bemühungen um die Pflege verfassungsrechtlicher Erinnerungskultur auf juristischer Seite finden, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das Wissen um diese Zusammenhänge nicht examensrelevant ist.
Interdisziplinäre Ansätze von Tanz- und Staatsrechtswissenschaft sind gefordert
Der fehlenden juristischen Neugier an der karnevalistisch mitbetriebenen Pflege des historischen Verfassungskulturguts könnte indes durch interdisziplinäre Forschung abgeholfen werden.
Es gibt ein bemerkenswertes Feld, auf dem der Anschluss gesucht werden kann. So zwängen sich dieser Tage in Köln ein aufs Verkehrsrecht spezialisierter Rechtsanwalt, ein Vermögensberater und der Geschäftsführer eines auf Schweiß- und Druckgastechnik abonnierten Unternehmens als "Dreigestirn" in enge Strumpfhosen und bieten karnevalistische Tänze dar.
Damit machen sie auf eine weitgehend in Vergessenheit geratene Staatspraxis aufmerksam: die Inszenierung von Macht durch Tanz.
Nachdem beispielsweise 1653 die Opposition des französischen Hochadels, die Fronde, gebrochen war, trat der 14-jährige Ludwig XIV. (1638–1715) als Tänzer im "Ballet de la Nuit" auf. In ihrer Studie "Macht des Tanzes. Tanz der Mächtigen" (1993) hielten die Historiker Rudolf Braun (1930–2012) und David Gugerli (1961–) fest, dass dieser Tanz des Königs "keine Zirkusnummer" gewesen sei, "sondern ein staatspolitischer Akt, der die Niederlage der frondierenden Adeligen der Welt vor Augen führen soll".
Dass Braun/Gugerli so weit gehen, von einer getanzten "Regierungserklärung" zu sprechen, belegt, welche performativen Ansprüche die Staatsrechtswissenschaft hier wiederzuentdecken hat. Damit nicht genug: Am Hof des – selbst natürlich auch in dieser Rolle tanzenden – "Sonnenkönigs" dienten die aufwendigen Ballets der sozialen Kontrolle des politischen Spitzenpersonals. Angesichts der öden Rituale heutiger Machtinhaber in spießigen Inszenierungen wie "Hart aber fair" oder "Maischberger" verdient das großartige Potenzial z.B. des "Ballet de la Nuit" interdisziplinäre Aufmerksamkeit. So anstößig der rheinische Straßenkarneval auch sein mag, den "Helden in Strumpfhosen" ist es zu verdanken, dass die Erinnerung an eine tanzbare Staatsordnung nicht ganz verloren gegangen ist.
Staatsgewalt – im Tanz erobert, im Tanz gesichert
Wenn junge Juristen (m/w/d) sich fürs Staatsexamen drillen lassen, lernen sie zwar z.B. den französischen Staatsrechtslehrer und Hexerei-Experten Jean Bodin (1530–1596) kennen, der als Erfinder der Souveränitätslehre gilt.
Dass aber moderne Staatsgewalt nicht etwa nur damit durchgesetzt wurde, indem beispielsweise in England König Heinrich VIII. (1491–1547) horizontal den Brexit von den symbolpolitischen Vorgängern der EU-Kommission und des Luxemburger Gerichtshofs erklärte, sich also der Gerichtsbarkeit des Papstes entzog, und vertikal die englische Rechtsordnung zur Geltung brachte, indem er vieltausendfach verarmte Bauern aufhängen ließ, sondern auch in der schönen Form des Tanzes, könnte das Bild deutlich verbessern, das man sich von der Souveränität macht.
Heinrichs Tochter Elizabeth I. (1533–1603) zog etwa – wie der Vater in gesunden Jahren – während ihrer Regierungszeit von einem Landgut des Hochadels zum nächsten, um sowohl ihrem Hofstaat als auch ihren Gastgebern Höchstleistungen im Tanz abzuverlangen. Die aufwendigen Inszenierungen sowie die Mahlzeiten zwischendurch beanspruchten den solcherart heimgesuchten Adel wirtschaftlich ganz außerordentlich, boten aber zugleich Gelegenheit, sich im Tanz in hoch kultivierten Ritualen zu zeigen, um Gunst und Nähe der Herrscherin zu werben.
Die Königin selbst schonte sich dabei nicht und wurde als nachgerade athletische Tänzerin beschrieben, die noch wenige Monate vor ihrem Tod – im Alter von stattlichen 69 Jahren – dafür sorgte, von fremden Diplomaten bei anspruchsvollen Tanzsprüngen beobachtet zu werden. Eine Entsprechung in der Gegenwart fände dies vielleicht, sollte US-Präsident Donald Trump (1946–) elegante Yoga-Übungen vorführen, um sich kalifornischen Wählerinnen schmackhaft zu machen.
Es mag damit angedeutet sein: Die performative Seite von Recht und Staatsgewalt ist zu interessant, als dass man sie ihren karnevalistischen Zerrbildern überlassen sollte. Wer daran zweifelt: Lloyd Russell-Moyle, der Mann mit dem Flegel, kann es bezeugen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor.
Rosenmontag: . In: Legal Tribune Online, 04.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34175 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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