Resilienz des BVerfG: Gegen den leicht­fer­tigen Ver­zicht auf die Zwei-Drittel-Mehr­heit

von Dr. Christian Rath

10.10.2024

Der Bundestag hat über die Gesetzentwürfe zur Stärkung des BVerfG debattiert. Was dessen Resilienz stärken soll, könnte zugleich die Legitimation des Gerichts beeinträchtigen, meint Christian Rath mit Blick auf die Richterwahl.

Die breite Basis bei der Wahl der Verfassungsrichter:innen ist eine wesentliche Grundlage für den Erfolg des Bundesverfassungsgerichts. Die Wahl der Richter:innen mit Zwei-Drittel-Mehrheit ist die Voraussetzung dafür, dass das Gericht als überparteiliche Einrichtung wahr- und ernstgenommen wird. Und weil das überparteiliche Gericht dann meist einstimmig oder mit deutlichen Mehrheiten entscheidet, wirken seine Urteile wie ein Ausdruck überparteilicher Vernunft und finden eine bemerkenswert hohe Akzeptanz.

Dies ist ein wesentlicher Unterschied etwa zum US-Supreme Court, dessen Richter:innen auf Vorschlag des Präsidenten mit einfacher Mehrheit im US-Senat bestätigt werden. Die Folge ist ein stark polarisiertes, unausgewogen besetztes Gericht mit schwindender Akzeptanz.

Gemäßigte Personalpakete

Die eine Hälfte der 16 Bundesverfassungsrichter:innen wird im Bundestag, die andere Hälfte im Bundesrat gewählt. Immer ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich. Das ergibt sich aus § 6 und § 7 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG). Seit einigen Jahren wird diese Zwei-Drittel-Mehrheit jeweils mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP erreicht. In der Praxis wurden informell Vorschlagsrechte für die Parteien verteilt. Je drei Richter:innen pro Senat werden von CDU/CSU und SPD vorgeschlagen, je eine Richter:in von Grünen und FDP.

Ein Personalvorschlag kann von den anderen beteiligten Parteien (nur) aus schwerwiegenden Gründen abgelehnt werden. Um eine Ablehnung zu vermeiden, schlagen die Parteien in der Regel eher gemäßigte Richter:innen vor. Diese können dann später in den Senaten des BVerfG meist gut zusammenarbeiten, sodass das Wahlverfahren auch das geschlossene Auftreten des BVerfG begünstigt.

Zwei Resilienz-Szenarien

All dies scheint durch die immer stärker werdende AfD bedroht zu werden. Dabei sind allerdings zwei Szenarien zu unterscheiden, je nachdem, ob angenommen wird, dass die AfD (ggf. gemeinsam mit dem ebenfalls populistischen Bündnis Sarah Wagenknecht, BSW) eine Mehrheit im Bundestag erzielen könnte oder (nur) eine Sperrminorität.

Wenn AfD & Co. eine Mehrheit im Bundestag hätten, könnten sie das BVerfGG ändern, insbesondere § 6 und § 7. Sie könnte also eine Wahl der Verfassungsrichter:innen mit einfacher Mehrheit einführen und die neu zu wählenden Richterposten allesamt selbst besetzen. Deshalb wurde vorgeschlagen, das zentrale Zwei-Drittel-Erfordernis für die Richterwahl im Grundgesetz zu verankern.

Der gemeinsame Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP (BT-DrS 20/12977), der an diesem Donnerstag erstmals im Bundestag debattiert wurde, will zwar einige Strukturmerkmale des BVerfG im Grundgesetz verankern, etwa die Zahl der Senate und der Richter. Er verzichtet aber darauf, das Zwei-Drittel-Quorum für die Wahl der Verfassungsrichter:innen ebenfalls in der Verfassung festzuschreiben. Grund dafür ist die Annahme der CDU/CSU, das zweite Szenario (eine Sperrminorität der AfD) könnte viel wahrscheinlicher sein. Für diesen Fall will die Union sich und dem Bundestag den Weg offen halten, das Quorum für die Verfassungsrichterwahl auf eine einfache Mehrheit abzusenken.

Der zweite gemeinsame Gesetzentwurf (BT-DrS 20/12978) der Vierer-Koalition sieht zur Absicherung gegen eine AfD-Sperrminorität allerdings ein anderes Mittel vor, das zwar weniger problematisch, aber auch nicht unproblematisch ist. Wenn mehrere Monate lang im Bundestag keine Wahl mit Zwei-Drittel-Mehrheit gelänge (und auch die Personalvorschläge des Bundesverfassungsgerichts nicht zu einer Einigung führten), könnte auch der Bundesrat diesen Richterposten besetzen (und umgekehrt). Dieser Ersatzwahlmechanismus soll sicherstellen, dass ausscheidende Verfassungsrichter:innen nur einige Monate geschäftsführend im Amt bleiben müssen und so die Arbeitsfähigkeit des BVerfG auch im Fall einer AfD-Sperrminorität stets gesichert bleibt.

Auch die Mehrheit kann blockieren

Typischerweise wird unterstellt, dass die AfD (die in der Regel gar nicht genannt wird, aber eindeutig gemeint ist), die Wahl der Verfassungsrichter:innen blockiert. Es müsse also ein funktionierendes System vor der Sabotage durch eine für den Rechtsstaat gefährliche Partei geschützt werden, heißt es von den Befürwortern der Resilienzpläne.

Doch so einfach ist es nicht. Wenn die AfD eine Sperrminorität im Bundestag hätte (oder - deutlich unwahrscheinlicher - im Bundesrat), dann ist es naheliegend und geradezu folgerichtig, dass sie daraus auch den Anspruch auf Vorschlagsrechte für die Richterwahl ableitet. Genau das ist der Sinn der Zwei-Drittel-Mehrheit, dass alle politischen Kräfte, die für das Erreichen einer Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich sind, an der Richterwahl beteiligt werden. Denn so wird die breite Legitimation des BVerfG sichergestellt.

Sollte also die AfD mit ihrer Sperrminorität die Wahl von Richtervorschlägen anderer Parteien blockieren, weil der AfD keine eigenen Personalvorschläge zugestanden werden, ist das keine systemwidrige Erpressung, sondern ein legitimer Versuch, das eigene Vorschlagsrecht durchzusetzen. Wenn also keine Richterwahl zustande kommt, weil die etablierte Mehrheit der AfD trotz Sperrminorität ein Vorschlagsrecht verweigert, dann könnte man auch sagen, dass hier die Mehrheit die Richterwahl systemwidrig blockiert hat.

Anders als beim Bundestags-Vizepräsidenten

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht bereits klargestellt, dass die AfD keinen Anspruch hat, dass die Mehrheit ihre Personalvorschläge für Bundestags-Vizepräsidenten oder Ausschuss-Vorsitzende wählt (zuletzt im Urteil vom 18. September 2024, Az.: 2 BvE 1/20 u. a.).

Dennoch unterscheidet sich die Wahl der Verfassungsrichter:innen in zwei wichtigen Punkten hiervon. Vor allem ist im BVerfG-Gesetz eben kein Mehrheitsbeschluss vorgesehen, sondern eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Die etablierten Parteien können also nicht mit Mehrheit die meisten Posten besetzen, sondern sie könnten (ohne Einigung mit der AfD) gar keine Richterposten mehr neu besetzen.

Zum anderen geht es bei der Richterwahl nicht um parlamentarische Posten, die nur mit AfD-Abgeordneten besetzt werden können, sondern um Richterämter, für die die AfD lediglich das Vorschlagsrecht hätte. Sie könnte hierbei auch Rechtsprofessor:innen, Bundesrichter:innen oder Anwält:innen vorschlagen, die keine AfD-Mitglieder sind und damit potenziell weniger verdächtig sind, das BVerfG als Kontrollinstanz lahmlegen zu wollen. Wäre etwa der emeritierte Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek jünger, käme er gut als AfD-Personal-Vorschlag in Betracht.

Auch die bisherige Praxis an den Landesverfassungsgerichten spricht nicht grundsätzlich gegen AfD-Vorschlagsrechte für Verfassungsrichterwahlen. Die Tätigkeit von AfD-benannten Landesverfassungsrichter:innen, etwa in Baden-Württemberg, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern, verlief vielmehr unauffällig.

Blockade der Mehrheit wird begünstigt

Die heute diskutierten Gesetzentwürfe sehen nun aber vor, dass die Blockade der Verfassungsrichterwahlen (durch die AfD und/oder die etablierten Parteien) keine Folgen für die Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgericht haben soll. Indem der oben beschriebene Ersatzwahlmechanismus eingeführt wird, wird jedoch insbesondere eine Blockade durch die etabliereten Parteien prämiert. Wenn statt des eigentlich zuständigen Bundestags hilfsweise der Bundesrat eine Verfassungsrichterwahl vornimmt, so kann diese Möglichkeit bis auf weiteres nur von der etablierten Politik genutzt werden, denn die AfD wird auf absehbare Zeit über keine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat verfügen.

Zwar hat die Ersatzwahl im Bundesrat mehr demokratische Legitimation als andere diskutierte Formen der Ersatzwahl, etwa eine Ersatzwahl in einem Gremium der obersten Bundesgerichte oder gar eine Kooptation von Richter:innen durch das BVerfG selbst. Anzuerkennen ist auch, dass die Zwei-Drittel-Mehrheit auch bei der Wahl im Bundesrat erforderlich bleibt, sie also nicht völlig aufgegeben wurde. Es beschädigt dennoch die Legitimation des BVerfG, wenn nur irgendeine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist, nicht aber die eigentlich vorgesehene Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, dem Hauptrepräsentationsorgan der parlamentarischen Demokratie.

Im Ergebnis sichert der Ersatzwahlmechanismus also, dass die etablierte Mehrheit die AfD-Vorschlagsrechte für Verfassungsrichter:innen verweigern kann, ohne dadurch die Arbeitsfähigkeit des BVerfG zu behindern und deshalb öffentlich kritisiert zu werden. Es besteht deshalb die Gefahr, dass leichtfertig von dem Ersatzwahlmechanismus Gebrauch gemacht wird.

Ersatzwahlmechanismus ist dennoch sinnvoll

Es wäre nun aber auch zu kurz gegriffen, auf den Ersatzwahlmechanimus zu verzichten, um die Wahl der Verfassungsrichter:innen mit Zwei-Drittel-Mehrheit und damit eine wesentliche Grundlage für ihre hohe Akzeptanz zu sichern. Denn natürlich kann es auch Fälle geben, in denen die Nutzung eines Ersatzwahlmechanismus legitim oder sogar notwendig ist.

Wenn etwa die AfD ihre Sperrminorität nicht nur nützen würde, um die ihr eigentlich zustehenden Vorschlagsrechte einzufordern, sondern dabei auch indiskutable Personalvorschläge macht, dann ist es gut, wenn die etablierten Parteien nicht auf solche Manöver eingehen müssen. Wenn etwa Provokationspolitiker wie der abgewählte Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses Stephan Brandner als Verfassungsrichter vorgeschlagen würden, so wäre darin wohl kaum der erforderliche Respekt vor dem BVerfG zu erkennen.

Das gleiche gölte, wenn die AfD Ihre Sperrminorität bei der Verfassungsrichterwahl nutzen würde, um auf gänzlich anderen Feldern, etwa in der Gesetzgebung, Zugeständnisse zu erpressen. Auch für derartige Manöver braucht die etablierte Politik einen soliden und praktikablen Ausweg.

Außerdem können sich auch die etablierten Parteien – ganz ohne AfD – gegenseitig so blockieren, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit darunter leidet. In Berlin etwa konnten sich CDU, SPD, Grüne und Linke drei Jahre lang nicht auf die Wahl neuer Richter:innen für das Landesverfassungsgericht einigen. Erst im Juli 2024 konnten sie sich auf ein neues Personalpaket einigen.

Auch in Spanien erfolgte die Wahl von Verfassungsrichter:innen immer wieder Jahre zu spät, weil sich die beiden großen Parteien, die sozialdemokratische PSOE und die konservative PP, nicht einigen konnten.

In all diesen Fällen ist es hilfreich, wenn es einen Mechanismus gibt, der sicherstellt, dass Verfassungsrichterwahlen nicht zu sachwidrigen Erpressungen genutzt werden können und das BVerfG nicht in einen Zustand der Arbeitsunfähigkeit hineinrutscht.

Es kommt auf die Politik an

Der geplante Ersatzwahlmechanismus im BVerfGG ist also nicht völlig abzulehnen. Er ist aber grundsätzlich gefährlich, weil er eine leichtfertige Gefährdung der Akzeptanz des BVerfG begünstigt.

Wie der Ersatzwahlmechanismus genutzt wird, ist vor allem eine Frage politischer Klugheit. Entscheidend ist, ob der Mechanismus nur in echten Notfällen benutzt wird (was akzeptabel wäre) oder regelmäßig aufgrund politischen Kalküls, insbesondere um die AfD auszugrenzen bzw. größtmöglichen Abstand zu ihr zu demonstrieren.

Für eine bedachte Nutzung des Ersatzwahlmechanismus spricht immerhin, dass die Politiker:innen von Bundestag und Bundesrat gar nicht so eng verbunden sind, wie das von außen vielleicht den Schein haben mag. Es ist gut möglich, dass sich die Verfassungsrichtermacher im Bundestag fragen, ob sie wohl wirklich auf vier, acht oder zwölf Jahre hinaus ihre Aufgabe ganz dem Bundesrat überlassen, nur um symbolisch die AfD auszugrenzen. Die Rechtspolitiker im Bundestag würden, wenn sie die AfD bei der Verfassungsrichterwahl ausgrenzen, zugleich sich selbst ausgrenzen. Es ist zu hoffen, dass dieser Gedanke dazu führt, dass eine Ausgrenzung der AfD trotz Sperrminorität nicht zur Regel wird und so der übliche Wahlmechanismus bei der Verfassungsrichterwahl gängige Praxis bleibt. Sonst wäre die Legitimation des BVerfG auf Dauer ernsthaft gefährdet.

Zitiervorschlag

Resilienz des BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 10.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55602 (abgerufen am: 11.10.2024 )

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