Gericht überging zwei ärztliche Befunde: "Medi­zi­ni­sche Sach­kunde ange­maßt"

von Luisa Berger

03.04.2024

Das OLG Köln hielt einen verletzten Feuerwehrmann für teilweise arbeitsfähig – trotz entgegenstehender Befunde. Ein eigenes medizinisches Gutachten holte es im Prozess nicht ein. Darin sieht der BGH einen Verfassungsverstoß.

Grundsätzlich dürfen Gerichte auch über komplexere Fragestellungen entscheiden, ohne die Expertise von Sachverständigen einzuholen, wenn die Richter über hinreichendes eigenes Fachwissen verfügen. Weicht aber ein Gericht von der Einschätzung zweier Ärzte ab, ohne die eigene Ansicht medizinisch zu belegen, geht das zu weit, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) mit am Mittwoch veröffentlichtem Beschluss (v. 12.03.2024, Az. VI ZR 283/21). Das Oberlandesgericht (OLG) Köln habe sich durch seine Entscheidung "medizinische Sachkunde angemaßt". Dies verletze das Recht des Geschädigten auf rechtliches Gehör.

Geklagt hatte die Dienstherrin eines Feuerwehrbeamten, der sich bei einem Verkehrsunfall im Jahr 2009 Frakturen am Handgelenk und Unterarm zugezogen hatte und wegen Dienstunfähigkeit 2012 in den Ruhestand versetzt wurde. Die Dienstherrin fordert von den Schädigern den Ersatz des Verdienstausfalles seit 2012. Insgesamt geht es um mehr als 110.000 Euro.

Anders als das Landgericht Aachen, wies das OLG Köln den Schadensersatzanspruch in zweiter Instanz ab. Zwar sei unstreitig, dass der Geschädigte aufgrund des Unfalls seiner Arbeit als Feuerwehrmann nicht mehr nachgehen könne. Er hätte laut Einschätzung der OLG-Richter aber durchaus Arbeit anderer Art verrichten und so den Erwerbsschaden mindern können.

Widersprechen zahlreiche Aktivitäten der Arbeitsunfähigkeit?

Das OLG begründete seine Ansicht damit, dass der Beamte nach seiner Versetzung in den Ruhestand tatsächlich, wenn auch in geringfügigem Umfang, erwerbstätig war. So habe er als Betreuer einer Wohngruppe bei der Caritas gearbeitet. Es sei nicht ersichtlich, wieso er dieser Beschäftigung nicht in Vollzeit nachgegangen sei, so das Kölner Gericht. Außerdem vermiete der Geschädigte seine Ferienwohnung und habe im Jahr seiner Pensionierung ein Gebäude erworben und eigenständig restauriert und renoviert. Das Gebäude nutze er gemeinsam mit seiner Frau und einem Freund als Galerie, in der er Fotos vertreibe, die er selbst als Fotograf aufnehme. Daneben betätige er sich als Waldführer und führe jährlich mehrtägige Jugendfreizeiten durch.

Aus alldem zog das OLG den Schluss, dass der Feuerwehrmann in der Lage gewesen sei, Einkünfte zu erwirtschaften. Deshalb sei es pflichtwidrig, dass er sich weder um eine rentable Anstellung noch um Schadensminderung bemüht habe. Damit habe er die ihm obligende Schadensminderungspflicht aus § 254 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch verletzt.

Gericht weiß es besser als Hausarzt und Psychotherapeutin

Dieser Argumentation folgte der BGH jedoch nicht. Zwar treffe es zu, dass der Geschädigte dazu verpflichtet ist, seine verbleibende Arbeitskraft so nutzbringend wie möglich zu verwerten. Um beurteilen zu können, ob er dieser Pflicht nicht nachgekommen ist und seine Schadensersatzansprüche dementsprechend zu kürzen sind, müsse die Arbeitsfähigkeit des Geschädigten hinreichend festgestellt werden.

Zu dieser Frage lagen sowohl ein Befund des Hausarztes als auch einer Psychotherapeutin vor, die dem Geschädigten aufgrund seiner physischen und psychischen Verfassung die Erwerbsunfähigkeit bescheinigten. Diese Einschätzungen der Ärzte hätte das OLG Köln nicht einfach untergraben dürfen, ohne sich dabei selbst auf das Gutachten eines qualifizierten Sachverständigen zu stützen, so der BGH. 

Indem das Gericht die Frage nach der Arbeitsfähigkeit selbstständig entschied, habe es sich "medizinische Sachkunde bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hat". Außerdem hätte das OLG bei seiner Beurteilung der Gesamtumstände auch darauf eingehen müssen, dass die Tätigkeit des Geschädigten als Vermieter nur zwei Stunden in der Woche beanspruche und die Kunstgalerie nur an Wochenenden geöffnet habe. Nicht beachtet habe das Gericht zudem, dass sich der Geschädigte bereits von seiner Arbeit für die Caritas körperlich und psychisch überfordert fühlte.

Das OLG Köln habe die Ausführungen des Geschädigten mithin nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung berücksichtigt. Der BGH hat das Urteil daher wegen der Verletzung des in Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz verankerten Rechts auf rechtliches Gehör aufgehoben. Das OLG muss nun erneut über die Sache entscheiden – und wird dabei nun ein Gerichtsgutachten einholen müssen. Wie der Fall für den Feuerwehrmann ausgehen wird, ist dabei aber völlig offen.

Zitiervorschlag

Gericht überging zwei ärztliche Befunde: . In: Legal Tribune Online, 03.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54242 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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