Thomas Fischer sorgt erneut für Streit am BGH. Gemeinsam mit zwei Kollegen kritisierte er in einem Fachaufsatz, dass in Beschlussverfahren regelmäßig nur zwei Richter die Akten lesen. Der Berichterstatter habe dadurch einen zu großen Einfluss auf den Ausgang der Entscheidung. Nun treten die Mitglieder des 5. Strafsenats in einem eigenen Beitrag die Verteidigung des Vier-Augen-Prinzips an.
Nach derzeitiger Praxis lesen in den Beschlusssachen der Strafsenate am Bundesgerichtshof (BGH) nur der Berichterstatter und der Vorsitzende die jeweilige Akte. Die übrigen drei Richter verlassen sich auf die mündliche Schilderung des Berichterstatters, der zugleich auch einen Entscheidungsvorschlag unterbreitet.
Dieses Vier-Augen-Prinzip hält der BGH-Richter Thomas Fischer für problematisch. Der Berichterstatter könne den Sachverhalt durch die Art und Weise seiner mündlichen Schilderung so einfärben, dass sein Entscheidungsvorschlag zwangsläufig als richtig erscheinen müsse. Fischer hat zusammen mit zwei Senatskollegen Beschlüsse der Senate ausgewertet und festgestellt, dass die Aufhebungsquote abhängig von der Person des Berichterstatters um das Zehnfache schwankt. Folgerichtig plädiert er für ein System, in dem sämtliche Richter die Akte vollständig lesen, ein Zehn-Augen-Prinzip also.
Zweiter Strafsenat: Fischers Vorgehen ist "unerträglich"
Dem tritt der 5. Strafsenat nun geschlossen und entschieden entgegen. In einem voraussichtlich in der Oktoberausgabe der Neuen Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) erscheinenden Beitrag verteidigen die Richter das bisherige Vorgehen. Dieses werde seit Jahrzehnten von allen Strafsenaten und auch von Fischer selbst praktiziert. Zwar sei es nicht allein deshalb sakrosankt. Dass Fischer seine Kritik öffentlich geäußert und damit die Reputation des BGH in Frage gestellte habe, statt die Angelegenheit zunächst im Kollegenkreis und den zuständigen Gremien zu besprechen, sei jedoch "unerträglich".
Im Übrigen sei Fischers Kritik auch in der Sache nicht zutreffend. Die Berichterstatter würden tatsächliche oder rechtliche Probleme nicht kaschieren, sondern sogar besonders herausstellen. Zu einer Manipulation der Ergebnisse könne es nicht kommen, weil bereits der Vorsitzende, der die Akte ebenfalls liest, die Richtigkeit des Vortrags kontrolliere. Außerdem müsse der Berichterstatter jederzeit auf Rückfragen der Senatskollegen gefasst sein, bei denen etwaige Unterschlagungen oder Überzeichnungen ans Licht kämen. Drittens könne jeder Richter des Senats jederzeit Einsicht in die Akte nehmen, wenn es auf Feinheiten im Detail ankäme.
Geringe Fallzahl und zahlreiche Einflussfaktoren entkräften Statistik
Das Zehn-Augen-Prinzip werde also auch heute schon zumindest gelegentlich praktiziert. Es durchgängig anzuwenden oder gar jeden Fall von allen Richtern durchvotieren zu lassen, sei schon aus zeitlichen und personellen Gründen unmöglich. Es widerspräche darüber hinaus der auf Zusammenarbeit und gegenseitigem Vertrauen basierenden Senatsarbeit.
Auch die von Fischer durchgeführte, statistische Erhebung will der 5. Strafsenat nicht gelten lassen. Die untersuchte Fallzahl sei zu gering. Zudem würden Erfolg oder Misserfolg einer Revision durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, die sich durch ein bloßes Auszählen nicht erfassen ließen. So seien etwa manche Rechtsmaterien fehleranfälliger als andere und auch die Qualität der Revisionsbegründungen schwanke stark.
Dem Senat stehe zudem die Möglichkeit offen, dem Vorschlag des Berichterstatters nicht zu folgen. Auf Nachfrage erklärt der stellvertretende Vorsitzende des 5. Strafsenats, Günther Sander, er halte es für zweifelhaft, ob eine belastbare empirische Auswertung überhaupt möglich sei.
cvl/LTO-Redaktion
Streit am BGH um Vier-Augen-Prinzip: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9594 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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