2/2: Grenzkontrolle als Staatspflicht?
Das sieht Sicherheitsrechtler Albrecht anders: Man müsse auf die derzeitige Gefahrenlage, die durch die Unwissenheit der staatlichen Stellen entstehe, reagieren, anstatt sie zusätzlich zu fördern. Zwar wisse man nicht, ob eine Registrierung von Flüchtlingen und die Durchsetzung geltenden Rechts an den Grenzen einen Schaden verhindert hätte –"durch die Aushebelung des Rechtsstaats aber wurde die Gefahr für unsere Gesellschaft jedenfalls erhöht", meint Albrecht.
Geltende internationale und nationale Regelungen zur Einreisekontrolle würden auf die täglich eintreffenden Flüchtlinge aus Nahost nicht angewandt, so der Passauer Lehrbeauftragte. Dieser Rechtsbruch werde durch staatliche Stellen zumindest gefördert. "Unter dem Deckmantel der ‚Humanität‘" wolle die Regierung jedes Gegenargument totschlagen. "Der Rechtsstaat dient und schützt aber gerade den Menschen. Und ohne einen Rechtsstaat, der geltendes Recht beachtet, kann es auch keine 'Humanität' geben."
Die europäische und die deutsche Außengrenze zu sichern und sogar zu schließen, solange es unmöglich ist, die Menschen zu erfassen, hält er für "das Recht eines souveränen Staates und eine rechtsstaatliche Pflicht".
Aus den Grundrechten und den Staatszielbestimmungen des Staates ergäben sich dessen Schutzpflichten gegenüber seinen Bürgern. Weil diese sich seinem Gewaltmonopol unterwerfen, müsse der Staat sie als Gegenleistung vor Dritten schützen, welche sie vielleicht sogar töten wollen, so Albrecht.
Staatliche Schutzpflicht oder Unterminierung des Rechtsstaats?
Denis Basak hält diese Argumentation auf staatsrechtlicher Ebene für zweifelhaft. Er betont, dass die sog. Schutzpflichten unter Juristen seit Jahrzehnten stark umstritten sind: "Die Grundrechte sind als Freiheits- und Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat konzipiert. Eine Schutzpflicht des Staates würde sich ja gegen andere Bürger des Staates richten, denen gegenüber man die Freiheitsrechte quasi umdrehen und gegen sie richten würde."
Florian Albrecht will das nur für Menschen gelten lassen, die bereits Bürger dieses Landes sind. Er setzt nicht erst bei polizeilichen oder Überwachsungsmaßnahmen an: Die primäre Schutzpflicht des Staates sieht er darin, "mögliche Gefährder erst gar nicht ins Land zu lassen". Wenn wirksame Maßnahmen bereits an der Grenze getroffen würden, blieben die Bürger im Land von Eingriffen geschont. Das sei eine aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgende Pflicht zum Einsatz des mildesten Mittels "gegenüber unserer Bevölkerung und nicht Dritten gegenüber – denn Dritte sind nicht Teil des Gesellschaftsvertrages".
Basak hingegen weist darauf hin, dass zu Deutschlands völkerrechtliche Pflichten auch "oder vielleicht sogar an erster Stelle" die Achtung der Menschenrechte zähle, zu denen es auch gehört, Flüchtlinge aufzunehmen, zu beschützen und zu versorgen. Auch seien die Grundrechte - außer 8, 9, 11, 12, 16 GG - schon vom Wortlaut her ganz überwiegend keine "Deutschenrechte".
"Die Rechte von Nichtdeutschen per se für unbeachtlich erklären zu wollen, so lange wir sie draußen halten, erscheint mir gelinde gesagt zynisch"; so Basak. Mit dieser Argumentationsstruktur habe auch die Regierung unter George W. Bush versucht, die völlige Rechtlosigkeit der Gefangenen auf dem Stützpunkt Guantanamo auf Kuba zu begründen - "der Supreme Court der USA sah dies dann übrigens ganz anders". Einräumen muss Basak, dass ein pluralistischer, offener Rechtsstaat keine absolute Sicherheit garantieren könne: "Das Lebensrisiko allein rechtfertige es nicht, Rechte einzuschränken – das würde letztlich den Rechtsstaat, den wir verteidigen wollen, unterminieren".
"Die lange Vorratsdatenspeicherung hat auch in Frankreich nicht geholfen"
Einig ist er sich mit Sicherheitsrechtler Albrecht aber in der Beurteilung der bereits erhobenen Forderung nach einer Verschärfung der Vorratsdatenspeicherung. Kurz nachdem ihre Wiedereinführung vom Bundestag beschlossen wurde, forderte u.a. der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, am Wochenende in der Rheinischen Post eine längere Speicherung der Verbindungsdaten als die nun beschlossenen zehn Wochen. Basak und Albrecht halten das für nicht effektiv und daher nicht verfassungsgemäß.
Beide verweisen auf die in Frankreich schon länger geltende zweijährige Speicherfrist, die zukünftig – nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 - auf fünf Jahre ausgedehnt werden soll. "Selbst wenn man auf die nachträgliche Strafverfolgung abstellt, lässt sich aus der Erfahrung sagen, dass jegliche Spuren nach mehr als zehn Wochen ohnehin "kalt" sind," so Basak.
Mit Materialien von dpa
* die zunächst verwendete Personalbezeichnung "Wissenschaftlicher Mitarbeiter" wurde nachträglich durch die richtige Bezeichnung "Wissenschaftlicher Rat" ersetzt.
Anne-Christine Herr und Pia Lorenz, Nach dem Terror in Paris: . In: Legal Tribune Online, 17.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17554 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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