Nur eine Stimme, die den "Soli" noch für möglich hält, hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags gefunden. Die Bundestagsjuristen haben die Literatur zur Abschaffung des Zuschlags ausgewertet. Und melden große Zweifel am SPD-Plan an.
Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags äußert Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschaffung des Solidaritätszuschlages für 90 Prozent der Zahler. Die Regelung, die in der vorvergangenen Woche vom Bundeskabinett auf Betreiben der SPD beschlossen worden war, berge "ein hohes Risiko der Verfassungswidrigkeit", heißt es in dem 23-seitigen Gutachten, das Ende vergangener Woche veröffentlicht wurde.
Ein "beachtlicher und auch renommierter Teil der Fachliteratur" sei der Ansicht, dass mit Ablauf des Solidarpakts II die verfassungsmäßige Rechtfertigung für die Erhebung des Solidaritätszuschlags als Ergänzungsabgabe entfalle, heißt es in der Einschätzung der Bundestagsjuristen. Der Wissenschaftliche Dienst geht daher von einem hohen Risiko aus, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Erhebung des Solidaritätszuschlags für Veranlagungszeiträume ab 2020 für verfassungswidrig erklären würde.
Diese Bewertung gilt laut dem Wissenschaftlichen Dienst auch für die sogenannte 90-Prozent-Lösung, welche Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart hatten und die Gegenstand des jetzigen Regierungsentwurfs ist. Danach sollen nur die zahlungskräftigsten zehn Prozent der Steuerzahler den Zuschlag weiterhin zahlen. Dabei sehen die Bundestagsjuristen in dieser sozialen Staffelungeher keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 Grundgesetz (GG). Verfassungsrechtliche Probleme verorten sie vornehmlich woanders.
Politisch verknüpft: Solidaritätszuschlag und Solidarpakt II
Zwar fielen die Expertenmeinungen um die soziale Staffelung weniger eindeutig als die über die allgemeine Frage, ob der Staat den Solidaritätszuschlag nach 2019 noch erheben kann, so der Wissenschaftliche Dienst, der in diesem Fall vom CSU-Finanzpolitiker Hans Michelbach beauftragt wurde. Die Wissenschaftler schreiben sich jedoch auf die Fahne, parteipolitisch neutral und sachlich objektiv zu arbeiten - und kommen in diesem Fall nach Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur zum Ergebnis, dass jede Erhebung des Solidaritätszuschlags über 2019 hinaus – sei es auch nur von höheren Einkommensgruppen und Unternehmen – verfassungsrechtlich hoch riskant wäre.
Nach dem Kabinettsbeschluss soll der Soli ab 2021 für 90 Prozent der heutigen Zahler entfallen. Weitere 6,5 Prozent sollen ihn dann nur noch teilweise zahlen. Die Union möchte den Soli auf Dauer ganz streichen. Der Bund der Steuerzahler (BdSt) will erreichen, dass der Zuschlag schon vollständig abgeschafft wird, wenn die Aufbauhilfen für Ostdeutschland enden, sodass schon 2020 nicht mehr gezahlt werden muss.
Das 1995 verabschiedete Solidaritätszuschlagsgesetz, das den Solidaritätszuschlag einführte, ist selbst nicht befristet und sieht keine Zweckbindung für die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer vor, deren Einnahmen in den Bundeshaushalt fließen. Der Soli wird allerdings mit dem "Solidarpakt II", den Finanzhilfen für die neuen Länder, in Verbindung gebracht, der dieses Jahr ausläuft.
Kein Solizuschlag ohne Solidarpakt II: Gibt es eine rechtliche Verbindung?
Neben einer politischen sieht die offenbar ganz herrschende Meinung unter den Staatsrechtlern laut den Bundestagsjuristen auch eine rechtliche Verbindung zwischen Solidaritätszuschlag und dem Solidarpakt II. Als einzig gewichtige Gegenstimme nennt das Gutachten Steuerrechtler Prof. Dr. Henning Tappe von der Universität Trier.
Eine Ergänzungsabgabe - die es im Grundgesetz gar nicht gibt - dürfe der Gesetzgeber nicht zur Befriedigung irgendeines allgemeinen Finanzierungsbedarfs erheben, so die Mehrheit der Staats- und Steuerrechtler. Sie gehen laut dem Gutachten davon aus, dass es weitergehende, außerordentliche und legitimierende Gründe geben müsse und der Bedarf sich nicht anders decken lassen darf. Wegen des Mehrbedarfs nach der Wiedervereinigung sei der Soli damit zwar verfassungskonform eingeführt worden. Wenn aber der Bedarf wegfalle, könne auch eine verfassungskonform eingeführte Ergänzungsabgabe mit Zeitablauf verfassungswidrig werden, so das Gros der Juristen, heißt es in dem Papier des Wissenschaftlichen Dienstes.
Ob das nun automatisch und sofort mit dem Auslaufen des Solidarpakts II zwangsläufig passiert, darauf mag sich offenbar keiner der Staatsrechtler festlegen. Aber die Bundestagsjuristen gehen doch, auch ohne direkte rechtstechnische Verknüpfung, davon aus, dass der Wegfall des Solidarpakts II "rechtlich nicht unbedeutend" für den Solidaritätszuschlag sei.
Die Verfassungsmäßigkeit über das Jahr 2019 hinaus zweifeln sie nach Auswertung der Rechtsprechung des BVerfG sowie des Bundesfinanzhofs (BFH) zum Solidaritätszuschlag eindeutig an. Ohne einen zumindest losen Konnex zwischen der Abgabe und dem Solidarpakt II könnte der Gesetzgeber sonst besteuern, wie es ihm beliebt; "nach eigenem Gutdünken", wird Ex-BVerfG-Präsident Prof. Dr. Hans Jürgen Papier zitiert, "es entfiele jede Begrenzung", heiße es in einer Einschätzung des Wissenschaftlichen Beirats Steuern der Ernst & Young GmbH.
Wer einen Solidaritätszuschlag ab 2020 für verfassungswidrig hält, muss davon laut dem Wissenschaftlichen Dienst zwangsläufig auch für einen Solidaritätszuschlag ausgehen, der nur noch von einem Teil der Bevölkerung gezahlt werden muss - und das ganz unabhängig davon, dass die Juristen des Bundestags es sehr wohl für möglich halten, dass sozialstaatliche Erwägungen eine solche Unterscheidung rechtfertigen können – und damit keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung vorliegt.
Gutachten zur Abschaffung des 90-Prozent-Soli: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37389 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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